Der internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018.
Zu dem diesjährigen internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus gibt es viele Veranstaltungen im ganzen Land. Ein Teil davon dokumentiert wiederum der Landtag in seiner Broschüre zum 27. Januar 2018.
Im inhaltlichen Fokus steht in diesem Jahr die Demontage des Rechtsstaates und der Bürgerrechte durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten und ihrer vielen, viel zu vielen Helfer, jährt sich der 30. Januar 1933 doch zum 85. Mal. Einen räumlichen Schwerpunkt haben die Veranstaltung in Koblenz. Hier findet am 27. Januar die Gedenksitzung des Landtages als auswärtige Plenarsitzung statt. Am 31. Januar und 1. Februar veranstaltet der Landtag ebenfalls in Koblenz eine zweitägige Tagung zum Thema „NS-Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Krankenmorde – Regionale Perspektiven auf den Raum des heutigen Rheinland-Pfalz“. Das Nähere zu Koblenz entnehmen Sie bitte auf den Seiten 5 und 30 bis 34 der Broschüre. Unser Förderverein gibt in den nächsten Tagen auch noch eine Presseerklärung speziell zu den Veranstaltungen in Koblenz heraus. Diese finden Sie dann auch hier auf der Homepage.
Die Broschüre des Landtags zum 27. Januar 2018 HIER herunterladen
Die Veranstaltungen zum Gedenktag an die NS-Opfer in Koblenz
Zu den Veranstaltungen gab unser Förderverein die nachfolgende Presseerklärung heraus:
Die diesjährigen Veranstaltungen zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018 in Koblenz werden wesentlich vom Landtag Rheinland-Pfalz geprägt. Zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 73 Jahren kehrt der Landtag für kurze Zeit nach Koblenz zurück, wo er nach dem Krieg bis 1950 seinen Sitz hatte – und dann wie auch die Landesregierung nach Mainz umzog.
Die Veranstaltungen beginnen mit einem Gespräch über die Rettung der dänischen Juden im Spätherbst 1943. Über diesen einzigartigen Widerstand des dänischen Staates und seiner Bürger diskutieren unter dem Motto „’Sie sind eine Mauer um uns gewesen.’ – Dänemarks Rettung seiner jüdischen Mitbürger“ diskutieren Dänemark-Kenner und Kirchenhistoriker am Freitag, dem 26. Januar 2018, um 19.00 Uhr im Historischen Rathaussaal. Ergänzt wird das Gespräch durch eine Lesung. Veranstalter ist die Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, mit Kooperationspartnern.
Am Samstag, dem 27. Januar 2018, hält der Landtag um 11.00 Uhr seine Gedenksitzung als auswärtige Plenarsitzung im Neuen Justizzentrum Koblenz. Zu den Abgeordneten, Regierungsmitgliedern und geladenen Gästen sprechen Landtagspräsident Hendrik Hering und Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Im Mittelpunkt steht die Gedenkrede von Professor Dr. Michael Stolleis über die „Zerbrechlichkeit des Rechtsstaats“. Thema ist dabei, wie vor nunmehr 85 Jahren die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, in die Hände Hitlers, seiner Nationalsozialisten und der vielen, viel zu vielen Helfer geraten und untergehen konnte. Der Rechtshistoriker Stolleis geht auch der Frage nach, welche Konsequenzen aus diesem Versagen in der Nachkriegszeit gezogen wurden und heute zu ziehen sind.
Nach der Sondersitzung erinnern der Förderverein Mahnmal Koblenz, die Stadt Koblenz und Kooperationspartner gegen 13.30 Uhr am Mahnmal auf dem Reichensperger Platz an die Opfer des Nationalsozialismus. Dabei gedenken Oberbürgermeister Joachim Hofmann-Göttig und Schülerinnen und Schüler besonders der Opfer, die bei der Machtübernahme der Nazis vor 85 Jahren in Koblenz und Umgebung verfolgt wurden.
Anschließend, gegen 14.00 Uhr, findet die Gedenkstunde mit christlich-jüdischem Gebet in der Citykirche am Jesuitenplatz statt. Es sprechen Oberbürgermeister Joachim Hofmann-Göttig und der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Mahnmal Koblenz Joachim Hennig. Thema ist mit Blick speziell auf Koblenz und Umgebung die Demontage des Rechtsstaates und der Bürgerrechte durch die Machtübernahme der Nazis vor 85 Jahren.
Danach wird ebenfalls in der Citykirche die Ausstellung „Un-er-setz-bar. – Begegnung mit Überlebenden“ eröffnet. Die Ausstellung des Erinnerungsortes Topf Söhne, Erfurt, porträtiert sieben NS-Opfer, die die Vernichtung durch die Nazis überlebt haben. Ein Lebensbild ist Waltraut („Trautchen“) Reinhardt und ihrer Familie gewidmet. Sie lebt seit Jahrzehnten in Koblenz und ist die Witwe des vor einem Jahr verstorbenen Koblenzer Musikers Daweli Reinhardt, dem Mitbegründer des Schnuckenack-Reinhardt-Quintetts, und Mutter des Koblenzer Sängers Django und seiner Musikerbrüder Mike, Bawo, Sascha und Moro Reinhardt.
Am Sonntag, dem 28. Januar 2018, gastiert „Zaruk“ auf seiner Deutschland-Tournee mit einem Duo-Konzert um 11.00 Uhr in der Citykirche. Der Gitarrist Rainer Seiferth und die Cellistin Iris Azquinezer präsentieren die unterschiedlichsten Musiken der Welt, die sie zu einem Matineekonzert der besonderen Art zusammenführen. Kooperationspartner sind das Dekanat Koblenz, KHG Koblenz, KEB Koblenz und Stadt Koblenz.
Am Dienstag, dem 30. Januar 2018, laden das Bundesarchiv Koblenz und der Freundschaftskreis Koblenz-Petah Tikva e.V. zu einem Filmabend ein. Um 18.00 Uhr wird im Bundesarchiv, Potsdamer Straße 1, der Dokumentarfilm „Schnee von gestern“ gezeigt. In dem 2014 produzierten deutschen Film begibt sich die Regisseurin Yael Reuveny auf Spurensuche nach dem Bruder ihrer Großmutter, einem Juden aus Wilna, der den Holocaust überlebte und als „normaler“ Bürger in der ehemaligen DDR lebte.
Den Abschluss der Veranstaltungen bildet eine zweitägige Tagung des Landtags und seiner Kommission für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz am 31. Januar und am 1. Februar 2018 im Bundesarchiv Koblenz. Kooperationspartner ist die Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit im heutigen Rheinland-Pfalz. Zum Thema „NS-Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Krankenmorde – Regionale Perspektiven auf den Raum des heutigen Rheinland-Pfalz“ referieren Fachleute zur NS-Rassenhygiene und ihrer Verbrechen im Deutschen Reich und speziell auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Den Schwerpunkt bilden die psychiatrischen Einrichtungen sowie Biografien von Opfern und Tätern in und aus unserer Region. Erörtert wird auch der Umgang mit diesem Kapitel der NS-Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland. Die Tagung findet ihre Ergänzung in der noch bis zum 31. März 2018 im Landeshauptarchiv Koblenz in der Karmeliterstraße präsentierten Ausstellung „’Lebensunwert’ – Entwürdigt und vernichtet. Zwangssterilisation und Patientenmorde im Nationalsozialismus im Spiegel der Quellen des Landeshauptarchivs Koblenz“.
Die Gedenksitzung des Landtages ist geladenen Gästen vorbehalten. Zu allen anderen Veranstaltungen sind Besucher und Teilnehmer herzlich eingeladen. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Der Eintritt ist jeweils frei.
Lesen Sie auch die Vorberichte zu den Veranstaltungen zum 27. Januar 2018:
HIER in der Rhein-Zeitung vom 24. Januar 2018
Hier in Blick aktuell - Ausgabe Koblenz – Nr. 04/2018 vom 25. Januar 2018
Und HIER in dem Koblenzer LokalAnzeiger „Schängel“ Nr. 4 vom 24. Januar 2018
Zur Einstimmung auf die Veranstaltungen begann unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig im Koblenzer LokalAnzeiger "Schängel" eine Artikelserie. Unter dem Generalthema „Erinnerung an NS-Opfer“ beleuchtete er aus Koblenzer Sicht die Themen der verschiedenen Veranstaltungen.
Die Reihe begann mit einem einleitenden Bericht von Joachim Hennig im „Schängel“ Nr. 1 vom 3. Januar 2018 mit dem Thema „Die Erinnerung darf nicht vergehen.“
Lesen Sie HIER den Artikel im „Schängel“ Nr. 1 vom 3. Januar 2018.
Der 2. Artikel von Hennig im „Schängel“ Nr. 2 vom 10. Januar 2018 thematisierte im Hinblick auf die Machtübernahme der Nazis vor 85 Jahren – am 30. Januar 1933 – die Demontage des Rechtsstaats und der Bürgerrechte mit dem Titel: „Morde wurden als ‚Staatsnotwehr‘ legalisiert“.
Lesen Sie HIER den Artikel im „Schängel“ Nr. 2 vom 10. Januar 2018.
In seinem 3. Artikel beschäftigte sich Hennig mit Blick auf den Festvortrag von Prof. Dr. Michael Stolleis in der Sondersitzung des Landtages am 27. Januar 2018 unter dem Titel „Jüdische Anwälte wurden deportiert“ mit der Personalpolitik der Nazis.
Lesen Sie HIER den Artikel im „Schängel“ Nr. 3 vom 17. Januar 2018.
In seinem 4. Artikel schilderte Hennig das Schicksal der jüdischen Familie Landau aus Koblenz, die in der Neustadt 4 lebten („Für die honorige Familie Landau wurde das Leben in Koblenz unerträglich.“). Heute ist das Haus Teil des Neuen Justizzentrums Koblenz, in dem die Sondersitzung des Landtags am 27. Januar 2018 stattfand.
Lesen Sie Sie HIER den Artikel im Schängel Nr. 4 vom 24. Januar 2018.
Die Vorabend-Veranstaltung am 26. Januar im Historischen Rathaussaal
Die Veranstaltungen begannen am 26. Januar mit einem Gespräch und einer Lesung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz in Kooperation mit dem Kultur- und Schulverwaltungsamt Koblenz und unserem Förderverein im Historischen Rathaussaal. Unter dem Motto „Sie waren eine Mauer um uns gewesen.“ diskutierte ein hochrangig besetzter Kreis von Kirchenhistorikern, Pfarrern und Autoren über den dänischen Pfarrer Kaj Munk und die Rettung der dänischen Juden vor den deutschen Besatzern im Oktober 1943.
Nach der Begrüßung durch die Kulturdezernentin Dr. Margit Theis-Scholz stellte der inzwischen emeritierte Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde Johannes Meier die Diskutanten vor und führte in das Thema des Abends ein: den Pfarrer, Publizisten und Übersetzer der Arbeiten von Kaj Munk Paul Gerhard Schoenborn, Professor Per Ohrgaard, dänischer Germanist, Sprachhistoriker und Übersetzer, den emeritierten Professor für deutsche Sprache und ältere Literatur Uwe Pörksen und den Pfarrer und Schriftsteller Christian Hartung aus Kirchberg/Hunsrück. Aus Briefen und Werken Kaj Munks las der Schauspieler Reinhard Riecke vom Theater Koblenz.
V.l.n.r.: Pfarrer Paul Gerhard Schoenborn, Pfarrer Christian Hartung, Prof. Dr. Johannes Meier, Prof. Per Ohrgaard,
Prof. Dr. Uwe Pörksen und am Stehpult: Schauspieler Reinhard Riecke.
In dem Gespräch ging es zunächst um den dänischen Pfarrer Kaj Munk und dessen Kampf gegen Hitler und die NS-Ideologie. Dazu rezitierte der Schauspieler Riecke den „Schmelztiegel“, ein in Dänemark sehr bekanntes Lied aus dem 19. Jahrhundert. Dessen Titel hatte Munk für sein Theaterstück Han sidder ved Smeltediglen („Er sitzt am Schmelztiegel“) übernommen. Das im Jahr 1938 geschriebene Drama thematisierte die Verfolgung der Juden im Dritten Reich und rechnete mit dem vergeblichen Versuch einiger deutscher NS-Wissenschaftler ab, den Juden Jesus zum Arier zu machen. Wegen seines kritischen Inhalts konnte es nicht offiziell in Dänemark uraufgeführt werden. Erst nach der Präsentation in Norwegen wurde es auch in Provinzstädten Dänemark gezeigt, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs sahen mehr als 160.000 Zuschauer dieses Schauspiel.
Kaj Munk (Quelle: Wikipedia)
Wie die Diskutanten deutlich machten, bezog Munk auch auf anderen Wegen klipp und klar Stellung gegen die antijüdische Politik der Nazis. So veröffentlichte er eine Woche nach den Novemberpogromen am 9./10. November 1938 in einer dänischen Zeitung einen offenen Brief an den italienischen Diktator Mussolini. Darin beschwor er den Verbündeten Hitlers, diesen von den Judenverfolgungen abzubringen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden Musks Haltung und Äußerungen immer schärfer. Schauspieler Riecke las aus einem Briefwechsel zwischen einer Studentin und Munk vor, in dem dieser auf die Verantwortung der Christen für die Juden nachdrücklich hinwies und sie rhetorisch(?) aufforderte, eine Waffe in die Hand zu nehmen und zu lernen, in Christi Namen zu töten. Auch in Munks Predigten aus diesen Jahren fanden sich unmissverständliche Aufrufe zum Widerstand.
Im zweiten Teil des Gesprächs ging es um die Rettung der dänischen Juden. Dabei ergab sich eine durchaus differenzierte Betrachtung dieser Aktionen. Während die deutschen Diskutanten die Evakuierung der dänischen Juden als eine einmalige Großtat der dänischen Bevölkerung und staatlicher Stellen hervorhoben, verwies der dänische Gesprächspartner Ohrgaard auch auf die besonderen Umstände vor Ort, die die Rettung begünstigten: So war die Zahl der dänischen Juden relativ klein, auch waren es viele einheimische, alteingesessene Juden, die zudem ganz überwiegend in der Hauptstadt Kopenhagen lebten. Zugleich war die Stimmung in Dänemark gegenüber den Deutschen aus der Geschichte heraus sehr „reserviert“, überdies reagierte die überwiegende Mehrheit entsetzt auf die Rassenideologie und den Antisemitismus der Nazis. Kurz vor der Rettungsaktion hatten noch die dänischen Bischöfe in einer Erklärung eindeutig gegen die Judenverfolgung Stellung genommen. Zudem hatte der Reichsbevollmächtigte für Dänemark, Dr. Werner Best, ein Interesse, die Dänen nicht (weiter) gegen die deutsche Besatzung aufzubringen, wurde Dänemark doch als wichtiger Lieferant für landwirtschaftliche Produkte benötigt. Schließlich war die Evakuierung der danischen Juden ohne sehr großen logistischen Aufwand zu organisieren, da das neutrale Schwedenals Nachbarland recht gut erreichbar war.
Rettung der dänischen Juden (Quelle: Wikipedia)
Die dänischen Juden, es waren etwa 7.000, konnten dann in den ersten Tagen des Oktober 1943 mit Schiffen das dänische Festland verlassen und gelangten alsbald nach Schweden. Durch diese Rettungsaktion fielen nur vergleichsweise wenige Juden, vor allem solche mit nichtdänischer Staatsangehörigkeit, in die Hände der deutschen Besatzer. Sie wurden dann in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
Wie die Zuhörer noch erfahren mussten, war Kaj Munk wenig später ein Opfer der SS. Anfang Januar 1944 wurde er von einem SS-Kommando in seinem Pfarrhaus verhaftet und auf Anordnung von Heinrich Himmler erschossen. Die Beisetzung von Kaj Munk wenige Tage später geschah unter großer öffentlicher Anteilnahme.
Die Veranstaltungen am 27. Januar
Informationsbesuch des Kultusministers Prof. Konrad Wolf
Der Gedenktag begann mit einem Gespräch und Rundgang des rheinland-pfälzischen Ministers für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Prof. Dr. Konrad Wolf, mit dem er sich über die Gedenkarbeit in Koblenz informierte. Auf seine Einladung hin trafen sich Vertreterinnen und Vertreter der Stadt und der in der Gedenkarbeit in Koblenz engagierten Vereine sowie die Landtagsabgeordnete Anna Köbberling zu einem kleinen Rundgang. Er begann an den in der Schlossstraße 1 liegenden Stolpersteinen, die dort für in der ehemaligen jüdischen Kinderklinik Dr. Reich zur Welt gekommene jüdische Kinder und den Schwiegervater von Dr. Reich Karl Lichtenstein verlegt sind. Dort erläuterte der Organisator der Verlegung, Hans-Peter Kreutz von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft für Brüderlichkeit, die Vorgehensweise bei den inzwischen 111 Steine sowie deren Sinn und Bedeutung für die Gedenkarbeit. Minister Wolf ließ es sich dabei nicht nehmen, beim Putzen der Steine selbst Hand anzulegen, und sich damit gleichsam vor den Opfern des Naziterrors zu verneigen.
Beim Putzen der „Stolpersteine“ in der Schloßstraße 1: Minister Prof. Dr. Konrad Wolf und Hans-Peter Kreutz (v.l.n.r.)
An dem für den Kommunisten Richard Christ in der Neustadt 23 verlegten Stolperstein ergänzte der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Mahnmal Koblenz Joachim Hennig, dass die Stolpersteine auch für Opfer anderer verfolgter Gruppen und Minderheiten verlegt werden. Dabei sind die Steine ein Anstoß zu einer weitergehenden Beschäftigung mit der Biografie der Opfer, wie sie vor allem durch die Lebensbilder auf der Homepage des Fördervereins Mahnmal Koblenz möglich ist.
HIER der Link zur Biografie von Richard Christ
Abschließend erwies Minister Wolf noch seine Referenz dem jüdischen Ehepaar Dr. Eugen und Käthe Stern, die in der Kastorpfaffenstraße 3 eine Arztpraxis betrieben hatten. Dr. Stern war nicht nur ein sehr beliebter Mediziner, sondern auch ein großer Karnevalist, Mitglied des Elferrats und viel beklatschter Aktivist in der Bütt. Eugen Stern floh nach Belgien, dort verliert sich 1944 seine Spur, Käthe Stern kam im Frühjahr 1943 in Auschwitz ums Leben. Mit Blick auf diese und die Schicksale anderer Koblenzer NS-Opfer dankten die Kulturdezernentin Dr. Margit Theis-Scholz und die Vorsitzende des Freundschaftskreises Koblenz-Petah Tikva Hilde Arens im Namen aller Herrn Minister Wolf für sein Interesse an der Gedenkarbeit in Koblenz.
Blick aktuell – Ausgabe Koblenz - Nr. 5 vom 1. Februar 2018, Seite 5 HIER lesen
Plenarsitzung des Landtags von Rheinland-Pfalz
Eine besondere Bedeutung und Aufmerksamkeit erhielten die Veranstaltungen zum 27. Januar durch die Plenarsitzung des Landtags Rheinland-Pfalz. Im Foyer des Neuen Justizzentrums (NJZ) kamen die Mitglieder des Landtages, der Landesregierung und geladene Gäste zusammen zu einem eindrucksvollen Erinnern an die NS-Opfer und einem vehementen Bekenntnis für die Demokratie und den Rechtsstaat.
Die Redner in der Plenarsitzung des Landtages: Prof. Dr. Michael Stolleis, Landtagspräsident Hendrik Hering
und Stellvertretender Ministerpräsident Volker Wissing (v.l.n.r.)
Landtagspräsident Hendrik Hering begrüßte die Versammlung mit einem Blick auf die Geschichte des „Altbaus“ des NJZ am Deinhardplatz und seiner früheren Bewohner. Er erinnerte an das damalige Haus Landau in der Neustadt 4 am heutigen Deinhardplatz und an den mit seiner Familie dort lebenden Amtsgerichtsrat Dr. Edwin Landau, einem sehr angesehenen Koblenzer Bürger und Förderer der Musik. Diskriminiert und resigniert verließen sie Mitte der 1930er Jahre Koblenz, Vor der „nach dem Osten“ drohenden Deportation fanden sie den Tod. Heute erinnern zwei Stolpersteine am Deinhardplatz 4 an Edwin Landau und seine Ehefrau Julie.
Sodann sprach Landtagspräsident Hering über die bis heute andauernde Geschichte der Schuldverdrängung und Schuldbewältigung. Selbst Jurist, erinnerte er an die Schuld vieler Juristen in der NS-Zeit und die misslungene juristische Aufarbeitung dieser Schuld, vor allem an die verheerende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Strafbarkeit von NS-Richtern selbst bei Todesurteilen nur beim Vorliegen einer Rechtsbeugung. Besonders erwähnte er das sog. Huppenkothen-Urteil, mit dem der BGH den SS-Standartenführer Walter Huppenkothen, den mutmaßlichen Massenmörder an 60.000 bis 80.000 Polen im Frühjahr 1940, wegen seiner Todesurteile für Widerstandskämpfer als Vorsitzendem eines Standgerichts im April 1945 zu nur sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilte. Im selben Jahr, 1956, hatte der BGH Sinti eine Entschädigung für erlittene Verfolgung mit sehr krassen, rassistischen und menschenverachtenden Worten versagt ("Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist." – so der BGH). Hering zitierte auch den Titel des Buches des deutschen Journalisten und Schriftstellers Ralph Giordano „Die Zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein“ (1967). Dann schilderte er, wie quälend lange es dauerte, bis die Justiz und die Parlamente die Aufarbeitung offensiv angingen, erwähnte die Initiative des damaligen Justizministers Peter Caesar, der Forschungsprojekte initiierte und für die Aufhebung aller von Sondergerichten auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz verhängter Todesurteile sorgte. Erst im Jahr 2002 kam es – wie Hering weiter ausführte – zur generellen Rehabilitation bisher vergessener NS-Opfer wie der Deserteuren und Wehrdienstverweigerer.
Das Land selbst lobend – dies aber auch zu recht – stellte Hering die inzwischen in Rheinland-Pfalz entstandene Erinnerungskultur als eine große Errungenschaft dar. Der Landtagspräsident dankte allen Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen, die in den letzten Jahrzehnten in steigendem Maße die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und an den Verbrechen der Nazis wach gehalten haben. Insbesondere hob er das Engagement der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz hervor. Landtagspräsident Hering schloss mit den Worten: „Wenn Menschen heute in Deutschland sagen, es reicht mit der Erinnerungskultur, dann können wir sicher sein, dass wir noch nicht genug getan haben.“
Die Gedenkrede hielt der inzwischen emeritierte Professor für Öffentliches Recht, neuere Rechtsgeschichte und Kirchenrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und frühere Direktor des dortigen Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Michael Stolleis. Stolleis, der sich als in Ludwigshafen geborener und in Neustadt/Weinstraße zur Schule gegangener Rheinland-Pfälzer vorstellte, schloss an die Ausführungen von Landtagspräsident Hering an, ergänzte, vertiefte, internationalisierte und aktualisierte sie noch. Auch er blickte auf die zunächst misslungene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zurück, sprach von Verdrängungen, Vertuschungen und Lähmungen und von Entschädigungen, die für Zwangsarbeiter, Homosexuelle und andere Opfergruppen zu spät kamen. Andererseits hob er aber auch hervor, dass Deutschland mit seiner zwischenzeitlich geschaffenen Erinnerungskultur und seinem offenen und schmerzlichen Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus ein Vorbild für andere Länder und dortige Initiativen zu deren Vergangenheitsbewältigung ist. Wie nötig dieses Vorbild und die Lehren aus dem Nationalsozialismus sind, machte Stolleis deutlich mit dem Hinweis auf zahlreiche autokratische Regierungen weltweit, die dabei sind, die Demokratie und den Rechtsstaat abzuschaffen und sich die Justiz abhängig zu machen.
Ausgehend von dem sich vor allem seit der Französischen Revolution ausbildenden Begriff des Rechtsstaats als eines Staates, bei dem das Handeln von Regierung und Verwaltung durch geltende Gesetze beschränkt und gelenkt und damit staatlicher Willkür vorgebeugt wird (formeller Rechtsstaat), beschrieb Stolleis, die Transformation der Weimarer Republik in den Unrechtsstaat Hitler und seiner Helfer. Dabei rekurrierte er auf die schon Anfang der 1940er Jahre von Ernst Fraenkel vorgenommene Analyse, dass der Staat Hitlers ein Doppelstaat war. Das nationalsozialistische Herrschaftssystem bestand – so Fraenkel - aus zwei großen Bereichen: dem „Normenstaat“ und dem „Maßnahmenstaat“. Normenstaat war das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet war, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangten. Maßnahmenstaat war für ihn das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt war. Im Normenstaat galten alte und neue Vorschriften in dem Umfang, wie es zur Funktionsfähigkeit des auf Berechenbarkeit angelegten, im Prinzip weiter privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaftssystems erforderlich war. Im Maßnahmenstaat handelten die nationalsozialistischen Funktionsträger unabhängig von allen formalen Regeln und inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen so, wie es ihnen zur Erhaltung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer spezifischen politischen Ziele – z. B. der Judenverfolgung – zweckmäßig erschien. Normenstaat und Maßnahmenstaat waren keine komplementären Gewalten, sondern konkurrierende Herrschaftssysteme. Die gesamte Rechtsordnung stand zur Disposition des Maßnahmenstaates. Es gab keine Materie, die der Maßnahmenstaat nicht hätte an sich ziehen können. Es gab also – wie Stolleis referierte - mehrere Wirklichkeiten.
Sodann befasste sich Stolleis mit den Juristen, ohne die – wie er sagte – ein Rechtsstaat nicht zu haben ist. Dabei ging er auch die Sozialisation der Juristen durch Schule, Studium und Ausbildung ein und das Einschwören auf die „herrschende Meinung“. Dies ist zwar nicht generell anstößig, aber ein großes Problem in einer Diktatur. So können – wie er ausführte – aus rechtstreuen Juristen „furchtbare“ Juristen werden – dann, wenn zu der Professionalisierung der Juristen ihre Politisierung in der Diktatur hinzukommt.
Vor diesem Hintergrund mahnte Prof. Stolleis zum beständigen Eintreten für den Rechtsstaat. Er zitierte das Wort Blaise Pascals: „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr“ und appellierte an den Zusammenhalt Europas. Europa ist gerade auch eine Wertegemeinschaft, die die Grund- und Menschenrechte und die Prinzipen des Rechtsstaats hochhält, hochhalten muss. Dabei ist der Rechtsstaat ein zerbrechliches, immer wieder zu schaffendes Gut, er ist immer wieder herzustellen. Das gilt auch – so Stolleis – für jeden von uns.
Abschließend sprach der stellvertretende Ministerpräsident Volker Wissing in Vertretung der bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin weilenden Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Auch Minister Wissing blickte in die Geschichte zurück, an die „kalte“ Justiz, in der die Diktatur von Anfang an viele, viel zu viele Unterstützer und Helfer fand. Exemplarisch erinnerte er an den „Rütli-Schwur“ auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig. Dort vor dem Reichsgericht schworen schon im Oktober 1933 mehr als 12.000 Juristen Hitler ewige Treue bis in den Tod. Von dieser höchst beschämenden Massenveranstaltung willfähriger Juristen lenkte Wissung den Blick auf die Opfer, da man – wie er sagte – das Ausmaß und die Schwere der Geschehnisse in der NS-Zeit, die Diskriminierung, Verfolgung und Verbrechen, erst an den Opfern erkennt. Diesen ihre Würde, ja ihren Namen zurückzugeben, ist die Aufgabe auch unserer heutigen Generation. Ausdrücklich dankte Wissing all denen, die sich für das Gedenken an die Verfolgten des NS-Regimes stark machten. Nötig ist – so Wissing weiter – ein Erinnern für die Zukunft. Deshalb dürfen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Wir alle sind – so der abschließende Appell des stellvertretenden Ministerpräsidenten Wissing – aufgerufen, Verantwortung für unsere freiheitliche demokratische Ordnung zu übernehmen.
Umrahmt wurde die Plenarsitzung des Landtags vom Jugendkammerchor der Singschule Koblenz unter der Leitung von Manfred Faig. Die jungen Sängerinnen und Sänger bereicherten diese sehr würdige Veranstaltung durch drei Gesangseinlagen: „Inscription of Hope“ von Randall Stroope, „Wie liegt die Stadt so wüst“, Trauermotette nach den Klageliedern Jeremiae von Rudolf Mauersberger, und „God shall wipe away all tears“ aus der Friedensmesse „The armed Man“ von Karl Jenkins.
HIER Pressebericht der Rhein-Zeitung vom 29. Januar 2018, Seite 3 lesen
HIER Pressebericht des Schängel vom 31. Januar lesen
HIER Artikel von Blick aktuell – Ausgabe Koblenz – Nr. 5 vom 1. Februar 2018, Seite 4 lesen
Gedenkveranstaltungen unseres Fördervereins. Statio und Gedenkstunde
Im Anschluss an die Plenarsitzung des Landtags im Neuen Justizzentrum Koblenz fanden die schon Tradition gewordenen Veranstaltungen unseres Fördervereins statt.
Lesen Sie dazu HIER das Programm zu den Veranstaltungen.
Das begann mit der Statio am Mahnmal auf dem Reichensperger Platz. Die gut besuchte Zeremonie begann mit Gedanken zum Erinnern an die Opfer, die von den Schülerinnen und Schülern der Hans Zulliger-Schule und der Diesterweg-Schule vorgetragen wurden. Sodann verlas Oberbürgermeister Hofmann-Göttig die Namen von 24 NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung, derer in diesem Jahr besonders gedacht wurde.
Schülerinnen und Schüler der Hans Zulliger-Schule und der Diesterweg-Schule bringen 24 Biografien von NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung zusammen mit einer weißen Rose am Mahnmal auf dem Reichensperger Platz an.
Zum Gedenken an die Opfer legten der Landtag und die Landesregierung von Rheinland-Pfalz je ein Blumengesteck am Mahnmal nieder.
Zum Abschluss spielten die Sinti-Musiker Jermaine und sein Vater Sascha Reinhardt eine Improvisation.
Die Sinti-Musiker Jermaine und Sascha Reinhardt (v.l.n.r.) bei der Statio am Mahnmal
Einen Artikel der Rhein-Zeitung – Ausgabe Koblenz – vom 29. Januar 2018, Seite 19 HIER lesen
Einen Artikel aus dem Schängel vom 31. Januar 2018/Seite 3 HIER lesen
Einen Artikel von Blick aktuell – Ausgabe Koblenz – Nr. 5 vom 1. Februar 2018, Seite 3 HIER lesen
Gedenkstunde mit liturgischer Feier in der Citykirche
Im Anschluss an die Statio am Mahnmal fand die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus in der Citykirche statt. Zu ihr begrüßte Oberbürgermeister Hofmann-Göttig unter den sehr zahlreichen Besuchern ausdrücklich die Abgeordneten des Bundestages und des Landtages, die Stadtverordneten und andere Vertreter der Stadt und der in der Gedenkarbeit in Koblenz aktiven Vereine sowie die Mitglieder der Familie Reinhardt, vor allem die Zeitzeugin Waltraut Reinhardt. Oberbürgermeister Hofmann-Göttig nahm das Motto der Plenarsitzung des Landtages auf „Erinnern für die Zukunft“ und mahnte an, aus der Geschichte zu lernen. Er verwies darauf, dass nach der jüngsten Statistik 30 Prozent der Koblenzer einen Migrationshintergrund haben. Das sind etwas 34.000 Einwohner, sie stammen aus 170 Herkunftsländern. Dies zeigt – so Hofmann-Göttig – wie wichtig der Zusammenhalt der in Koblenz lebenden Menschen ist. Koblenz war und ist eine weltoffene Stadt, aber auch in ihr gibt es Probleme und auch Minderheiten, die sehr am Rande stehen. Es ist ein Gebot der Stunde und der Zukunft, friedlich und in Respekt zueinander hier zu leben. Nicht entscheidend sind Religion und Herkunft, maßgeblich ist vielmehr wie man miteinander umgeht. Ein sichtbares Zeichen dieses Umgangs ist auch – so Hofmann-Göttig – die Initiative für den Neubau der Synagoge in Koblenz. Diese ist auf einem guten Weg und sollte bald zu einem guten Ergebnis führen
In der Ansprache nahm der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Mahnmal Koblenz Joachim Hennig die Gedanken zur „Zerbrechlichkeit des Rechtsstaats“ von Prof. Dr. Stolleis in seiner Rede im Landtag auf. Er erinnerte daran, wie die Weimarer Republik, die nie für ihre Ideale wirklich gekämpft hatte, eine Beute der Nationalsozialisten wurde. Vor nunmehr 85 Jahren, am 30. Januar 1933, fiel ihnen die Macht zu, die sie nie mehr losließen bis sie Terror und Tod nach fast ganz Europa brachten und Deutschland zerstörten. Deutlich werden ließ er die Zerstörung des Rechtsstaats und der Bürgerrechte an dem Schicksal der 24 Bürger aus Koblenz und Umgebung, deren Namen Oberbürgermeister Hofmann-Göttig verlas und deren Biografien die Schülerinnen und Schüler am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus angebracht hatten. Resümierend stellte Hennig fest, dass die Nazis entsetzlich viel für diese Zerstörung erreicht hatten:
Innerhalb von nur vier Wochen existierten die in der Weimarer Verfassung geschützten Bürgerrechte nicht mehr. Innerhalb von nur acht Wochen war nicht mehr das Parlament Herr der Gesetzgebung, sondern Hitler und viele seiner politischen Widerparts auf kommunistischer und auch sozialdemokratischer Seite waren geflüchtet, inhaftiert oder ermordet. Innerhalb von nur 14 Wochen wurden die Gewerkschaften, die zu den mächtigsten der Welt gehört hatten, aufgelöst. Innerhalb von nur 23 Wochen waren die Oppositionsparteien verboten - oder sie hatten sich selbst aufgelöst. Übrig blieb nur noch eine Partei: die NSDAP. Ende Juli 1933 befanden sich im gesamten Reich 26.789 Menschen in „Schutzhaft“.
Abschließend stellte Hennig die Frage, ob wir angesichts der Besorgnis erregenden Entwicklung in der letzten Zeit heute – wie vor 85 Jahren – wieder an einem Scheideweg stehen und wenn ja, welchen Weg wir diesmal einschlagen. Dabei erinnerte er an den „Legalitätseid“ Hitlers im September 1930 vor dem Reichsgericht, bei dem dieser erklärte, er wolle nur noch legal an die Macht kommen, dass dann aber „ein neuer Staatsgerichtshof zusammentrete(n), und vor diesem soll dann das Novemberverbrechen von 1918 seine Sühne finden, dann allerdings werden auch Köpfe in den Sand rollen.“ Dieser Ankündigung von Verbrechen, zu denen es dann schon 2 ½ Jahre später kam, stellte er den Tweed des Fraktionsvorsitzenden der AfD Uwe Junge gegenüber. Vor wenigen Tagen schrieb dieser: „Der Tag wird kommen, an dem wir alle Ignoranten, Unterstützer, Beschwichtiger, Befürworter und Aktivisten der Willkommenskultur im Namen der unschuldigen Opfer zur Rechenschaft ziehen werden! Dafür lebe und arbeite ich. So wahr mir Gott helfe!“ Seine Ansprache beendete Hennig mit der Mahnung: Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf!
Lesen Sie nachfolgend die vollständige Ansprache unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig:
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor wenigen Minuten haben wir am Mahnmal auf dem Reichensperger Platz der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Besonders erinnerten wir an die, die in der Frühphase der Machtübernahme Verfolgung erlitten. Hintergrund dafür ist, dass sich in wenigen Tagen, am 30. Januar, die sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten vor 85 Jahren, am 30. Januar 1933, jährt. Dies war auch Anlass für die Gedenkrede von Prof. Dr. Michael Stolleis heute Mittag in der Sondersitzung des Landtages im Neuen Justizzentrum Koblenz. Das war eine sehr nachdenklich machende und warnende Rede zum Thema: „Die Zerbrechlichkeit des Rechtsstaates“.
Das Thema „Zerbrechlichkeit des Rechtsstaats“ ist ein wichtiges Thema. Nicht nur, weil der Rechtsstaat in Deutschland vor 85 Jahren zerbrochen ist, sondern auch weil er heute zerbrechlich ist und nicht zerbrechen darf. Die Tagespolitik andernorts zeigt, wie gefährdet er ist: Ungarn, Türkei, USA, Polen. Und auch bei uns hat sich in den letzten Jahren viel Besorgniserregendes entwickelt. Wir alle müssen aufpassen und sensibel sein. Dazu hilft ein Blick in die Geschichte. Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Geschichte kann uns – wie der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 gesagt hat – gegen neue Ansteckungsgefahren immunisieren. Blicken wir also zurück – um klaren Blickes nach vorn schauen zu können.
Herr Oberbürgermeister Hofmann-Göttig hat am Mahnmal 24 Namen von NS-Opfern aus Koblenz und Umgebung verlesen. Sie stehen für die Opfer der Nazis bei der Machtübernahme und der Zerstörung des Rechtsstaates vor 85 Jahren.
Das erste Opfer war der Vizepräsident der Rheinprovinz Dr. Wilhelm Guske. Als Mitglied der SPD, des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ und der „Eisernen Front“ wurde er ein Opfer „politischer Säuberungen“ schon am Ende der Weimarer Republik. Bereits nach dem sog. Preußenschlag am 20. Juli 1932, bei dem der Reichskanzler von Papen die amtierende preußische Regierung entmachtete und dann viele demokratisch gesinnte hohe Beamte entließ, wurde Guske am 4. Oktober 1932 in den einstweiligen Ruhestand versetzt.
Die einzige Reaktion der abgesetzten preußischen Regierung war eine – im Übrigen erfolglose - Klage vor dem Staatsgerichtshof. Später stellte dazu ein jüdischer Mainzer Rechtsanwalt fest: „Die preußische Regierung hinterließ als Erinnerung lediglich eine Klage beim Staatsgerichtshof. Die Weimarer Republik war niemals kämpferisch gewesen. Sie war und blieb ein freundlicher älterer Herr im Gehrock und Zylinder, der nichts übel nahm und niemandem etwas zu leide tat.“
In dieser Agonie der ersten Demokratie auf deutschem Boden wurde der Vorsitzende der NSDAP Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum 21. Reichskanzler nach dem I. Weltkrieg ernannt. Er bildete eine Koalitionsregierung aus NSDAP, Deutschnationaler Volkspartei und dem „Stahlhelm“. Das klingt recht unspektakulär, das war es angesichts der Vorgeschichte, der zahlreichen früheren Kabinette im Grunde auch. Hier in Koblenz bekam man von diesem Ereignis zunächst nicht viel mit.
Nach dem 30. Januar 1933 ging es dann aber Schlag auf Schlag weiter mit der Demontage der Demokratie, des Rechtsstaats und der Bürgerrechte. Dabei bewegte sich viel in bekannten Bahnen, es war längst nicht alles neu, was die Nazis machten bzw. initiierten – aber es war alles generell konsequenter, radikaler und brutaler als je zuvor.
Nur zwei Wochen später setzten sie den „Massenhinauswurf republikanischer, demokratischer Beamter“ fort. Das nächste Opfer in Koblenz war am 12. Februar 1933 der Polizeipräsident Dr. Ernst Biesten. Biesten war seit Jahren ein entschiedener Gegner des aufkommenden Nationalsozialismus und wurde mit besonderer Häme „bis auf Weiteres“ aus dem Dienst entfernt. Das Koblenzer Nationalblatt drohte ihm sogar ein Strafverfahren an, dazu kam es aber nicht.
Am Abend des 27. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin. Die Nazis schoben ihn den Kommunisten in die Schuhe. Die Urheberschaft wurde nie eindeutig aufgeklärt. Später vermuteten manche Historiker, dass die Nazis den Brand selbst gelegt hatten, um ihre politischen Gegner, vor allem die Kommunisten, zu verfolgen. Am nächsten Tag wurde die Reichstagsbrand-Verordnung erlassen. Sie setzte die Grundrechte außer Kraft. Nach ihrem Wortlaut sollte sie nur vorübergehend gelten. Sie wurde aber nie mehr aufgehoben und war gewissermaßen das „Grundgesetz“ des Unrechtsstaates.
Sofort wurden im gesamten Deutschen Reich tausende von Kommunisten, sofern sie nicht fliehen konnten, nach vorbereiteten Listen verhaftet. Aus Koblenz und Umgebung kamen ca. 80 Kommunisten in „Schutzhaft“. Einer der ersten war Jakob Newinger, der in seiner Wohnung in Metternich, Trierer Straße, festgenommen wurde. Als ihn die Polizisten abführten, war viel los auf der Straße. Es war Karneval. Die Menschen sahen seine Verhaftung und lehnten sich dagegen auf. Schließlich kam ein Überfallkommando, das Newinger unter dem Protest der Menge ins Auto zerrte und ins Gefängnis brachte.
Wie Newinger wurde auch der Buchhändler Richard Christ in sog. Schutzhaft genommen. Er kandidierte für die KPD zu den Wahlen zum Stadtrat am 12. März 1933, wurde dann auch gewählt, konnte aber sein Mandat nicht wahrnehmen, weil er im Gefängnis in der Karmeliterstraße in sog. Schutzhaft festsaß.
Jagd machten die Nazis im gesamten Reich auf Reichstagsabgeordnete der KPD und andere führende Kommunisten. Einer der nach vorbereiteten Listen Gesuchten war der Reichstagsabgeordnete Klaus Thielen aus Vallendar. Er konnte gerade noch in das unter dem Mandat des Völkerbundes stehende Saargebiet fliehen.
Ein anderer früher Emigrant war der Neuwieder Friedrich Wolf. Er war den Nazis besonders verhasst, weil er nicht nur Jude, sondern auch noch Kommunist und damals schon ein angesehener Autor sozialkritischer Theaterstücke war. Während seine Schriften bei der „Bücherverbrennung“ der Nazis am 10. Mai 1933 in Flammen aufgingen, schrieb er sein berühmtestes und folgenreichstes Werk "Professor Mamlock" - schon im Exil - zu Ende. Darin schildert Wolf anhand eines (erfundenen) jüdischen Arztes und Klinikchefs die „Machtergreifung“ der Nazis und das Bemühen des Demokraten Mamlock, den Naziterror nicht wahrnehmen zu wollen. Als er ihn in seinem Umfeld doch erfahren muss, zerbricht er und nimmt sich das Leben.
Trotz all dieser Behinderungen und Verfolgungen der politischen Gegner erreichten die Nazis bei der letzten halbwegs legalen Reichstagswahl am 5. März 1933 nicht die absolute Mehrheit. Erst zusammen mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ (einem Zusammenschluss von Deutschnationaler Volkspartei und dem reaktionären „Stahlhelm“) brachten sie es auf 52 %.
Sofort übernahmen sie auch die Macht in den Städten und Gemeinden, auch in Koblenz. Der gewählte Oberbürgermeister Hugo Rosendahl wurde zum Amtsverzicht gezwungen, die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus gehisst.
Zwei Wochen nach den Reichstagswahlen erließ die neue Reichsregierung die Verordnung über die Bildung von Sondergerichten. Am selben Tag wurde das erste große Konzentrationslager, das KZ Dachau bei München, „eröffnet“.
Drei Tage später beschloss der Reichstag auch mit den Stimmen der Zentrumspartei das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Mit diesem sog. Ermächtigungsgesetz wurde auch die Reichsregierung zum Gesetzgeber. Die Exekutive konnte also selbst die Gesetze erlassen, die sie dann auch ausführte. Damit hatte sich der Reichstag, der nur noch sehr selten zusammentrat, selbst entmachtet.
Unterdessen gingen die Verhaftungen weiter. Sie trafen nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten. So wurde der bereits in den einstweiligen Ruhestand versetzte Vizepräsident der Rheinprovinz Dr. Wilhelm Guske (SPD), der bis zuletzt als geistiger Kopf des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ und der „Eisernen Front“ in Koblenz gegen die Nazis arbeitete, verhaftet und dabei in Handschellen und mit Hunden durch Koblenz geführt.
Für den 1. April 1933 inszenierten die Nazis einen reichsweiten „Judenboykott“. Er richtete sich gegen jüdische Geschäfte, Waren, Ärzte und Rechtsanwälte mit dem Motto: „Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“.
Eine Woche später erließ die Reichsregierung – sie konnte das ja aufgrund des „Ermächtigungsgesetzes“ – das sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Der Titel war genauso verlogen wie das, was die Nazis taten. Dies und das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft lieferten die scheinlegale Grundlage für die Entfernung von politisch Missliebigen und Juden aus dem öffentlichen Dienst und der Rechtsanwaltschaft. Es waren die beiden ersten Gesetze mit einem „Arierparagrafen“. Auch mehrere jüdische Koblenzer Rechtsanwälte verloren daraufhin ihre Zulassung. Es war etwa für die Juristenfamilie Brasch ihr gesellschaftlicher, beruflicher und wirtschaftlicher Abstieg.
Vier Wochen später zerschlugen die Nazis die Gewerkschaften. Den 1. Mai 1933, den sie erstmalig in Deutschland zum offiziellen Feiertag erhoben, begingen sie noch mit großen Propagandaveranstaltungen. Am Tag darauf besetzten sie alle Gewerkschaftshäuser, die Büros der Gewerkschaftspresse und Banken wurden geschlossen, das gesamte Gewerkschaftsvermögen beschlagnahmt, die Konten gesperrt. Führende Gewerkschafter wurden verhaftet. Dann wurden die Gewerkschaften „gleichgeschaltet“ und in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) überführt.
Sechs Wochen später ächtete der Reichsinnenminister Frick die SPD als eine „staats- und volksfeindliche Partei“. Das war das Quasiverbot der SPD. Das Parteivermögen wurde beschlagnahmt, führende Sozialdemokraten kamen in „Schutzhaft“. Auch der Vorsitzende der Koblenzer SPD Johann Dötsch wurde vorübergehend inhaftiert. Die anderen Parteien lösten sich daraufhin selbst auf.
Zwei Wochen später erklärten die Nazis die nationale Revolution für abgeschlossen; es käme nun die Zeit der ruhigen Evolution. Einige Tage später, am 14. Juli 1933, erließ die Reichsregierung das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“. Die NSDAP war von nun an die einzige Partei im Deutschen Reich. Die Neugründung von Parteien war verboten und stand unter Strafe. Am selben Tag erging dann noch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es erlaubte die Zwangssterilisation. Heute geht man davon aus, dass bis zu 400.000 Menschen Opfer dieser „Rassenhygiene“ wurden – etwa jeder 100. fortpflanzungsfähige Deutsche. Eines dieser Opfer war die junge Elisabeth M. aus Mülheim-Kärlich. Auch sie wurde zwangsweise sterilisiert. Als sie Jahre später wieder „auffällig“ wurde, kam sie erst in die Anstalt Andernach und dann 1944 in die Anstalt Hadamar bei Limburg/Lahn. Dort verstarb sie angeblich an Schwäche. Man hatte sie höchstwahrscheinlich mit einer Überdosis an Medikamenten ermordet.
Das Schicksal der anderen NS-Opfer kann ich hier nicht ansprechen. Erwähnen möchte ich nur noch das der jüdischen Juristenfamilie Brasch. Der Vater, der Justizrat Dr. Isidor Brasch, starb hier in Koblenz im Jahr 1936 noch eines natürlichen Todes. Sein älterer Sohn Ernst nahm sich vor der drohenden Deportation das Leben. Die Witwe Emma Brasch wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und dann in das Vernichtungslager Treblinka. Dort wurde sie mit Gas ermordet. Der jüngere Sohn Walter und seine Familie waren nach Holland geflohen. Nach der Besetzung durch Hitler-Deutschland wurden sie inhaftiert und kamen ins Konzentrationslager Westerbork. Von dort deportierte man Walter Brasch und seine beiden Kinder Jean-Pierre und Ilse Erika Anfang 1943 nach Auschwitz-Birkenau; seine Frau Irma folgte ihnen ein Jahr später. Sie alle wurden bei ihrer Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit Giftgas ermordet.
Damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind wir in unserer Geschichtserzählung im Jahr 1943/44. Angefangen hatte das alles gerade einmal 10 Jahre zuvor mit der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die dann folgenden Wochen und wenigen Monaten, die wir hier angesprochen haben, nannten die Nazis die nationale Revolution. Es war die Demontage der Demokratie, des Rechtsstaates und der Bürgerrechte. Sie dauerte noch nicht einmal ein halbes Jahr, als sie Anfang Juli 1933 für beendet erklärt wurde. Innerhalb dieser sehr kurzen Zeit hatten die Nazis aus ihrer Sicht viel erreicht:
Innerhalb von nur vier Wochen existierten die in der Weimarer Verfassung geschützten Bürgerrechte nicht mehr. Innerhalb von nur acht Wochen war nicht mehr das Parlament Herr der Gesetzgebung, sondern Hitler und viele seiner politischen Widerparts auf kommunistischer und auch sozialdemokratischer Seite waren geflüchtet, inhaftiert oder ermordet. Innerhalb von nur 14 Wochen wurden die Gewerkschaften, die zu den mächtigsten der Welt gehört hatten, aufgelöst. Innerhalb von nur 23 Wochen waren die Oppositionsparteien verboten - oder sie hatten sich selbst aufgelöst. Übrig blieb nur noch eine Partei: die NSDAP. Ende Juli 1933 befanden sich im gesamten Reich 26.789 Menschen in „Schutzhaft“.
Meine sehr geehrten Damen und Herren: Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kann und muss uns immun machen gegen neue Ansteckungsgefahren. Angefangen hatte das alles auch mit dem „Legalitätseid“ Hitlers im Frühherbst 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig. In einem Hochverratsprozess gegen drei Nazi-Offiziere wurde Hitler als Zeuge zu der Frage nach seinen Absichten und der seiner Partei befragt. Wie es in dem Urteil des Reichsgerichts dazu heißt, hat „er (…) mit unzweideutigen Worten erklärt, dass er seine Ziele nur noch auf streng legalem Wege verfolge, dass er den Weg in München im November 1923 nur „aus Zwang“ gegangen sei und diesen Weg schon deshalb nicht mehr beschreite, weil er bei dem wachsenden Verständnis, das Deutschland der völkischen Freiheitsbewegung entgegenbringe, ein illegales Vorgehen gar nicht nötig habe; die Gewalt falle ihm mit der Zeit auf legalem Wege von selbst zu“. Zuvor hatte Hitler vor dem Reichsgericht seinen „Legalitätseid“ geschworen und unter Eid erklärt: „Wenn unsere Bewegung siegt, dann wird ein neuer Staatsgerichtshof zusammentreten, und vor diesem soll dann das Novemberverbrechen von 1918 seine Sühne finden, dann allerdings werden auch Köpfe in den Sand rollen.“
An die Ansprache unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig schloss sich die liturgische Feier mit Superintendent Rolf Stahl (Evangelische Kirche), Dechant Hüsch (Katholische Kirche) und Pfarrer Staymann (Altkatholische Kirche) an. Das schon traditionelle christlich-jüdische Gebet war diesmal nicht möglich, weil wegen des Sabbats kein jüdischer Vertreter teilnehmen konnte.
Die Geistlichen bei der liturgischen Feier: Dechant Thomas Hüsch (Katholische Kirche),
Superintendent Rolf Stahl (Evangelische Kirche) und Pfarrer Ralf Staymann (Altkatholische Kirche) (v.l.n.r.)
Die Gedenkstunde endete mit Improvisationen zur Musik deutscher Sinti von Jermaine und Sascha Reinhardt. Beides sind Enkel bzw. Sohn der Zeitzeugin Waltraut Reinhardt und ihres vor einem Jahr verstorbenen Ehemannes Daweli Reinhardt, Mitbegründer des Schnuckenack- Reinhardt-Quintetts und Überlebender des Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und weiterer Konzentrationslager sowie des Todesmarsches vom KZ Sachsenhausen aus.
Sohn Jermaine und Vater Sascha Reinhardt bei Improvisationen zur Musik deutscher Sinti
Eröffnung der Ausstellung „Un-er-setz-bar“ in der Citykirche
Zum Abschluss der Veranstaltungen am 27. Januar wurde die Wanderausstellung des Erinnerungsortes Topf & Söhne, Erfurt, „Un-er-setz-bar“ eröffnet. Die Kuratorin der Ausstellung Sophie Eckensthaler führte in die Ausstellung ein, die sieben Überlebenden des Naziterrors und ihren Familien gewidmet ist. Porträtiert wird in der Ausstellung auch die Sintizza Waltraud („Trautchen“) Reinhardt aus Koblenz. Obwohl sie bereits über 80 Jahre alt ist und der Pflege bedarf, war sie zusammen mit ihren vier Töchtern Angelika, Lilli, Gudi und Michiko sowie ihrem „Raschai“, dem Arbeiterpriester Clemens Alzer, zur Eröffnung gekommen. Es war ein großes Erlebnis für diese Frau und Mutter, die an der Seite ihres bekannten Mannes Daweli Reinhardt immer zurückgezogen gelebt und zehn Kinder – fünf Mädchen und fünf Jungen – unter zum Teil sehr schwierigen Lebensumständen geboren und groß gezogen hatte. Sie hatte den bekannten Sinti-Musiker Daweli Reinhardt, der später Mitbegründer des Schnuckenack-Reinhardt-Quintetts war, beim „Ständeln“ in Koblenz kennen gelernt. Dort hatte es sie nach dem Krieg hin verschlagen, nachdem sie als Kleinkind von ihrer Familie getrennt worden war und in einem städtischen Kinderheim überlebte, während ihre Mutter und ihr Bruder in einem Konzentrationslager starben. Trautchen Reinhardt ist eine der allerletzten Opfer des Nationalsozialismus, die uns heute noch von den Schrecken des Naziterrors berichten und uns zu einem friedlichen und respektvollen Zusammenleben mahnen können.
Die Zeitzeugin Waltraut Reinhardt vor ihrer Biografie in der Ausstellung „Un-er-setz-bar“ mit vier ihrer fünf Töchter:
Lilli, Michiko, Angelika und Gudi (v.l.n.r.)
Zeitzeugin Waltraut („Trautchen“) Reinhardt
Fotos soweit nicht anders angegeben: Förderverein Mahnmal / Wikipedia unter CCC
Bericht über die Tagung des Landtages „NS-Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Krankenmorde – regionale Perspektiven auf den Raum des heutigen Rheinland-Pfalz“
von Joachim Hennig
Die Veranstaltungen zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2018 endeten mit einer zweitägigen Tagung zum Thema „NS-Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Krankenmorde“ im Bundesarchiv Koblenz. Damit hatte sich der veranstaltende Landtag in Verbindung mit der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz ein besonders bedrückendes Thema vorgenommen. Zu den Medizinverbrechen, die sich in der NS-Zeit auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz ereigneten, kamen erstmals Wissenschaftler und Archivare aus dem Rheinland und Hessen mit Forschern vor Ort aus Rheinland-Pfalz zusammen. In Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit im heutigen Rheinland-Pfalz ging es darum, den Kenntnisstand zu dieser Thematik im heutigen Rheinland-Pfalz festzuhalten und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Landtagspräsident Hendrik Hering (1)
Bei seiner Begrüßung knüpfte Landtagspräsident Hendrik Hering an die Veranstaltungen des Landtags zum 27. Januar 2018 an und erinnerte daran, dass die NS-Justiz mit über 200 Erbgesundheitsgerichten überall in Deutschland großes Leid über kranke und behinderte Menschen und auch über ihre Familien gebracht hatte. Man schätzt heute, dass bis 400.000 Personen zwangsweise sterilisiert wurden – etwa jeder 100. fortpflanzungsfähige Einwohner Deutschlands. Der Rassenwahn der Nationalsozialisten führte ab 1940 zu den NS-Krankenmorden an schätzungsweise 200.000 kranken, behinderten und sozial nicht angepassten Menschen - durch Giftgas, die Überdosis von Medikamenten und das verhungern lassen. Angesichts dieser Verbrechen, die selbst heute noch nicht allgemein bekannt sind, machte sich Landtagspräsident Hering die Idee des Bildungsministeriums zu Eigen, für die Schulen im Land den Besuch von Gedenkstätten verbindlich zu machen.
Der Bürgerbeauftragte und Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Dieter Burgard warb für die seit Jahren lebendige Erinnerungskultur in Rheinland-Pfalz, die auch von vielen Initiativen. Gruppen und Einzelpersonen getragen ist. Dabei verwies er darauf, dass in der im Jahr 2001 gegründeten Landesarbeitsgemeinschaft inzwischen 63 Initiativen und Gedenkstätten Mitglied sind und dass es die LAG war, die schon vor einigen Jahren diese Tagung angeregt und immer wieder gefördert hat.
Der Bürgerbeauftragte Dieter Burgard (1)
Präsident des Bundesarchivs Dr. Michael Hollmann räumte in seinem Grußwort Versäumnisse und Unzulänglichkeiten bei der Aufarbeitung dieser Verbrechen und der Erinnerung an diese Opfer ein. Erst nach der „Wende“ von 1990 war man in einem Keller des übernommenen Archivs der DDR-Staatssicherheit auf umfangreiches Quellenmaterial zu den Krankenmorden der sog. T4-Aktion gestoßen. Dazu gehörten etwa 30.000 Patienten-Akten, die heute im Bundesarchiv in Berlin archiviert sind. Hollmann bedauerte auch, dass der Zugang zu diesen Akten eingeschränkt ist und eine Veröffentlichung der Namen, selbst teilweise anonymisiert, mit Rücksicht auf Widerstände bei manchen Angehörigen der Opfer nicht gewagt wird.
Dr. Michael Hollmann (1)
Als Vertreterin der Stadt Koblenz sprach sich die Kulturdezernentin Dr. Margit Theis-Scholz für eine lebendige Erinnerungskultur aus. Erstmals zeigte sie für die Stadt auch ein gewisses Problembewusstsein bei der Ehrenbürgerschaft von und Straßenbenennung nach Dr. Fritz Michel, der in der NS-Zeit im Evangelischen Stift viele Menschen zwangsweise sterilisiert und einige dadurch auch zu Tode gebracht hatte.
Kulturdezernentin Dr. Margit Theis-Scholz (1)
Der stellvertretende Vorsitzende der Historischen Kommission des Landtages, der Mainzer Universitätsprofessor Dr. Michael Kißener, stellte die Themen und die Referenten der Tagung kurz vor.
Prof. Dr. Michael Kißener (1)
Der Medizinhistoriker und langjährige Leiter der Gedenkstätte Hadamar bei Limburg/Lahn, Dr. habil. Georg Lilienthal lieferte in seinem Referat die Grundlagen für die weiteren Erörterungen. Er verwies darauf, dass die „Rassenhygiene“ und „Euthanasie“, die Menschen mit Behinderungen für „minderwertig“ und „lebensunwert“ erklärten, keine Erfindung der Nationalsozialisten waren. Die Nazis griffen diese tödlichen Theorien und Ideologien aber mit aller Macht auf und setzten sie radikal und brutal gegen das eigene Volk um. Ohne Widerstand in der Gesellschaft schufen sie das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Erbgesundheitsgerichte und die Verfahrensordnung für diese Gerichtsbarkeit schuf und damit die scheinlegale Grundlage für die hunderttausenden Verstümmelungen. Ohne dass es ein systematisch entwickeltes Konzept gegeben hatte, entwickelte sich aus diesen Wahnideen sodann ein Massensterben, zunächst ein Hungersterben durch Überbelegung und zu geringen Pflegesätzen der Anstalten ab Mitte der 1930er Jahre, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die NS-„Euthanasie“ mit den Giftgasmorden der T4-Aktion an mindestens 70.000 Opfern und anschließend die dezentrale weitere Mordphase durch Überdosierung von Medikamenten und gezieltem verhungern lassen.
Lilienthal wies dann noch auf besondere Aktionen hin, so etwa auf die Sonderaktion für Juden im Rahmen der T4-Aktion, der Juden allein wegen ihrer Herkunft zum Opfer fielen, sowie auf die sog. Kindereuthanasie, für die ein Reichsausschuss zuständig war und in der Kinder in sog. Kinderfachabteilungen zentralisiert wurden.
In einer Gesamtschau der Opfer der NS-„Euthanasie“ auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz schätzte Lilienthal deren Zahl auf ca. 2.200: Kranke, Behinderte, Juden, sozial nicht angepasste Menschen.
Dr. Georg Lilienthal (1)
Vgl. dazu auch die Seminararbeit des Historikers Dr. Peter Hammerschmidt: „Die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens’“
Sodann richteten die Historiker Dr. Uwe Kaminsky und Dr. Peter Sandner, die seit vielen Jahren zu dieser Thematik forschen und publizieren, den Blick auf die Anstalten und Aktionen im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Das nördliche heutige Rheinland-Pfalz, die früheren Regierungsbezirke Koblenz und Trier, gehörten zur preußischen Rheinprovinz. Das Anstaltswesen war dort in der rheinischen Provinzialverwaltung mit Sitz in Düsseldorf organisiert. Schätzungsweise – so Kaminsky – gab es 20.000 Patienten, die meisten von ihnen waren in Anstalten in privater Trägerschaft (ca. 13.000), die staatlichen Einrichtungen waren in der Minderzahl.
Der Forschungsstand zu den Anstalten ist sehr unterschiedlich. Während die Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft gut erforscht sind, weiß man über katholische Häuser nur sehr wenig. Bekannt ist, dass die katholische Kirche und die katholischen Einrichtungen der (Zwangs-)Sterilisation anfangs ablehnend gegenüberstanden. Alsbald konnten sie sich der allgemeinen Entwicklung aber nicht (mehr) entziehen und machten mit. Die Zwangssterilisationen – so Kaminsky weiter – erfolgten dabei vor allem in den staatlichen Anstalten der Rheinprovinz.
Von den Referenten wurden vor allem die Anstalten in der Umgebung von Koblenz angesprochen, die Einrichtungen in Andernach und Scheuern bei Nassau sowie die Anstalt Hadamar bei Limburg (eine von sechs reichsweiten Tötungsanstalten, ihr „Einzugsgebiet“ war u.a. das heutige nördliche Rheinland-Pfalz) und auch die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn.
Andernach, eine staatliche Anstalt, und Scheuern, eine Anstalt der evangelischen Kirche, waren „Zwischenanstalten“. In ihnen wurden im Rahmen der Anfang 1940 begonnenen sog. T4-Aktion die dort lebenden Kranken („Ursprungskranken“) selektiert und nach Hadamar verlegt, um sie dort mit Giftgas zu ermorden. In die so teilweise geleerten Anstalten verlegte man dann die „Zwischenpatienten“, die aus Tarnungsgründen und zur besseren Organisation der Tötungen eine kurze Zeit in Andernach und Scheuern blieben, um ebenfalls ins Giftgas nach Hadamar geschickt zu werden. Diese Aktion wurde am 24. August 1941 unvermittelt abgebrochen. Daraufhin wurden die nach Andernach verlegten „Zwischenpatienten“, die nicht mehr nach Hadamar ins Giftgas transportiert werden konnten, in die anderen rheinischen Anstalten zurückverlegt.
Die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn, in der ausschließlich jüdische Patienten untergebracht waren, spielte dabei eine Sonderrolle, weil deren Kranke zusammen mit den Juden aus Koblenz und Umgebung „nach dem Osten“ deportiert wurden und dort umkamen.
Dr. Uwe Kaminsky
Dr. Peter Sandner
Der Archivar des Landeshauptarchivs Koblenz, Dr. Jörg Pawelletz, gab einen Überblick über die Quellenlage zur Erforschung von Zwangssterilisation und Krankenmorde in Rheinland-Pfalz. Pawelletz zufolge ist die archivfachliche Grundlage für die Forschung immer noch schwierig, aber besser als noch vor einigen Jahren. Viele Dokumente sind schon während des Krieges und bald danach verloren gegangen. Manche Sammlungen und Materialien sind heute noch unzugänglich, weil sie sich in Anstalten und Einrichtungen privater Träger befinden, so dass das Landeshauptarchiv keinen Zugriff darauf hat.
Im Übrigen erfordert es ein gewisses Geschick, die jeweiligen Quellen ausfindig zu machen. Schwierigkeiten bereitet die frühere Verwaltungsgeschichte des heutigen aus mehreren Regionen gebildeten Rheinland-Pfalz. So fänden sich Unterlagen zu den staatlichen Einrichtungen der früheren Regierungsbezirke Koblenz und Trier im Landeshauptarchiv Koblenz, vor allem auch die der früheren Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Materialien zu den staatlichen Anstalten der früheren vier nassauischen Kreise sind demgegenüber – wenn überhaupt – im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden archiviert. Eine Besonderheit gilt generell für die Akten der Erbgesundheitsgerichte. Diese wurden seinerzeit an das für den Betroffenen zuständige staatliche Gesundheitsamt zurückgegeben. Sie sind dort mit dem ansonsten noch angefallenen Schriftgut abgelegt. Früher waren diese praktisch nicht zugänglich, nunmehr sind sie – in dem Bestand 512 des Landeshauptarchivs - aber doch eher einsehbar. Hinzuweisen ist auch auf den im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde archivierte Bestand R 179. Dort lagern viele Unterlagen der T4-Aktion, allein ca. 30.000 Krankenakten (von ca. 70.000) aus dieser Aktion.
Akten der Heil- und Pflegeanstalt Alzey, vor allem auch Patientenakten dieser Einrichtung, befinden sich im Landesarchiv Speyer. Die Anstalt Klingenmünster bildet einen Sonderfall. Deren Akten der bis 1950 dort lebenden Patienten sind im Historischen Archiv des Pfalzklinikums archiviert. Vor allem Patientenschicksale können auch in Beständen der „Hilfsschulen“ und etwa auch der Landesschule für sinnesbehinderte Menschen erforscht werden.
Eine gute Grundlage für Forschungsarbeiten bieten laut Pawelletz auch die Justizakten. Das sind Bestände der Staatsanwaltschaften, die die Akten führenden Behörden für die Landgerichte und Oberlandesgerichte im Land sind. Interessant sind vor allem die NSG-Verfahren, die Prozesse wegen der NS-Gewaltverbrechen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Prozesse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Koblenz gegen die Direktoren und Ärzte der Heil- und Pflegeanstalten Andernach und Scheuern. Diese Verfahren richteten sich gegen den Andernacher Direktor Dr. Recktenwald und gegen den Scheuerner Direktor Karl Todt und den Arzt Dr. Thiel. Interessant sind für die „Täter“ auch die Entnazifizierungs- und Spruchkammerakten.
Erbgesundheitsgerichtsakten befinden sich auch in dem schon vor 1945 bestehenden Pfälzischen Oberlandesgericht Zweibrücken. Für die „Arisierung“ jüdischen Vermögens empfehlen sich die in den staatlichen Archiven liegenden Akten der Finanzämter. Hilfreich sind zudem die Akten der Wiedergutmachungs- und Rückerstattungsbehörden. Eine Anfrage beim Amt für Wiedergutmachung in Saarburg lohnt oft (wenn auch die hier in Rede stehenden Opfergruppen nicht nach dem Bundesentschädigungsgesetz – BEG – eine Wiedergutmachungsleistung erhielten). Die Akten des Amtes können in Saarburg vor Ort oder ggf. im Landeshauptarchiv Koblenz eingesehen werden.
Dr. Jörg Pawelletz (1)
Nach der Mittagspause begann der 1. Teil der Bestandsaufnahme im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz.
Zunächst referierte Frau Renate Rosenau, die einen großen Anteil am Zustandekommen der Tagung hatte, über die rheinhessischen Anstalten, die Provinzial-Siechenanstalt Heidesheim und die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Alzey. Frau Rosenau beklagte, dass es über die Anstalt Heidesheim praktisch kein Quellenmaterial gibt. Es existiert nur eine preisgekrönte Schülerarbeit darüber, die auch Quellenmaterial nennt, dies ist aber nirgendwo auffindbar. Sehr viel besser ist die Quellenlage zu Alzey. Hierzu haben Frau Rosenau und ihre Arbeitsgruppe viel aufgearbeitet, sie sind deshalb auch ein guter Ansprechpartner für die Opfer aus Rheinhessen.
Frau Renate Rosenau
Als Beispiele für die Pfalz berichtete Dr. Michael Brünger über die Anstalten in Frankenthal und Klingenmünster. Die Geschichte dieser Anstalten, vor allem die in Klingenmünster, ist recht gut erforscht, so dass hierfür auf die die Seminararbeit des Historikers Dr. Peter Hammerschmidt: „Die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens’“ HIER auf dieser Webseite verwiesen werden kann.
Der frühere Gymnasiallehrer in Andernach und Heimatforscher Günter Haffke vertiefte den Blick auf die Heil- und Pflegeanstalt Andernach, eine der beiden „Zwischenanstalten“ im heutigen Land Rheinland-Pfalz. Haffke ging vor allem auf die Besonderheit von Andernach ein, dass es von dort aus ab 1943 zahlreiche Transporte in den Osten gab. Mit der Deutschen Reichsbahn wurden Patienten aus Andernach in die Anstalten Landsberg, Meseritz-Obrawalde, Tworki, Lüben und Kulparkow verlegt. Die meisten von ihnen kamen in diesen Anstalten ums Leben. Nach dem Krieg wurden laut Haffke mehrere in Andernach tätig gewesene Ärzte von der Staatsanwaltschaft Koblenz beim Landgericht Koblenz angeklagt. Bis auf eine Ärztin, die sich „ungeschickt“ einließ und deshalb zu einer geringen Haftstrafe verurteilt wurde, sprach das Gericht die anderen Ärzte frei.
Günter Haffke
Fotos von Vortrag Günter Haffke
Lesen Sie dazu auch die kurze Mitteilung zu dem damaligen Direktor der Anstalt Dr. Johann Recktenwald hier auf dieser Webseite, der nachfolgend wiedergegeben ist:
Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Dr. med. Johann Recktenwald (geb. 1882)
Der im Jahr 1882 im Saarland geborene Recktenwald war nach seinem Studium der Medizin und seiner anschließenden Ausbildung zum Arzt sowie weiteren beruflichen Stationen Direktor der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt in Andernach. Er blieb in dieser Position, als im Frühjahr 1941 die Anstalten im Rheinland ebenfalls in die NS-„Euthanasie“-Aktion zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens einbezogen wurden. Die Anstalt Andernach wurde „Zwischenanstalt“ bei diesen Mordaktionen, bei denen psychisch Kranke und Unangepasste vor allem in der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg mit Giftgas umgebracht wurden. Nach dem Krieg musste sich Recktenwald mit anderen Ärzten der Anstalt Andernach vor dem Schwurgericht Koblenz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Mordes verantworten. Er wurde wegen erwiesener Unschuld freigesprochen, weil das Gericht ihm glaubte, dass er mit dem „Ausharren auf seinem Posten“ Schlimmeres verhindert habe.
Als letzter am 1. Tag der Tagung referierte der Doktorand Matthias Klein über die katholischen Heil- und Pflegeanstalten im früheren Regierungsbezirk Trier. Das waren vor allem der Schönfelder Hof und das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier. Während über den Schönfelder Hof nur sehr wenig bekannt ist, ist die Quellenlage zu den Barmherzigen Brüdern deutlich besser. Klein wusste zu berichten, dass relativ viele Patienten zwangsweise sterilisiert wurden. Dies geschah erst zögerlich, dann konnte sich aber auch diese Einrichtung in katholischer Trägerschaft der allgemeinen Entwicklung nicht mehr entziehen. In die Krankenmorde während des Zweiten Weltkrieges waren die Barmherzigen Brüder aber nicht unmittelbar einbezogen. Schon im Sommer 1939 wurde das Krankenhaus in ein Lazarett umgewandelt. Deshalb zog der rheinische Provinzialverband mehr als 500 Patienten vom Krankenhaus ab und verlegte sie in andere Anstalten. Ihr weiteres Schicksal ist bislang weitgehend unerforscht. Manche von ihnen wurden Opfer der Aktion T4, andere der weiteren dezentralen Krankenmorde, wieder andere verstarben in den Anstalten eines „natürlichen“ Todes und wieder andere überlebten.
Doktorand Matthias Klein
Den ersten Tag der Tagung umrahmte am Abend eine Theateraufführung des Landeskunst- und Aufbaugymnasiums Alzey im Landeshauptarchiv Koblenz. Die SchülerInnen zeigten das Stück „Gnadenlos“. Zugleich bestand die Möglichkeit, die Ausstellung „Lebensunwert – Entwürdigt und vernichtet“ zu besuchen, die zurzeit im Landeshauptarchiv Koblenz zu sehen ist.
Am zweiten Tag der Tagung setzte man die Bestandsaufnahme im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz fort.
Zunächst sprach Frau Renate Rosenau in Vertretung der verhinderten Frau Dr. Ulrike Winkler über die Kreuznacher Diakonie. Dabei machte sie die besondere Situation der Einrichtung deutlich. Diese war einerseits geprägt durch die Grenzlage des unteren Nahelandes zu Rheinhessen, Hessen, zur Rheinprovinz und zur Pfalz. Andererseits ergaben sich Besonderheiten daraus, dass die Anstalten in evangelischer Trägerschaft waren. Das war auch der Grund dafür, dass sich deren Leitung zunächst weigerte, die Meldebögen zur Erfassung der Kranken für die T4-Aktion auszufüllen. Dadurch geriet die Kreuznacher Diakonie nicht in diese Aktion. Letztlich konnte sie – wie Frau Rosenau schilderte – aber nicht verhindern, dass im Rahmen der späteren dezentralen Phase der Krankenmorde, in den Jahren 1943 und 1944, Menschen mit Behinderungen aus den verschiedenen Heimen der Diakonie verschleppt und dann auch ermordet wurden.
Foto Vortrag Renate Rosenau
Anschließend berichtete Frau Renate Rosenau zusammen mit dem Bendorf-Sayner Heimatforscher Dietrich Schabow über die Jacoby’sche Heil- und Pflegeanstalt in Sayn (heute: Bendorf-Sayn). Diese Geschichte fiel ganz aus dem Rahmen des bisher Gehörten, war die Anstalt doch von Anfang an eine private Einrichtung von und für Juden. Geleitet wurde sie alsbald von zwei jüdischen Ärzten, den Brüdern Jacoby. Zunächst blieb sie von den Nazis unbehelligt. Sie war ein Zufluchtsort für nerven- und gemütskranke Juden, die von auswandernden Angehörigen wegen der rigiden Einreisebestimmungen nicht ins Ausland mitgenommen werden konnten. Einer dieser Patienten war der sehr bekannte expressionistische Dichter Jakob van Hoddis (bürgerlich: Hans Davidson).
Lesen Sie zu Jakob van Hoddis auch die Kurzbiografie HIER auf dieser Webseite
Die Restriktionen für die dann so genannte Israeltische Heil- und Pflegeanstalt begannen Ende 1938 mit der Entlassung fast aller nichtjüdischen Arbeitskräfte. Spät, aber nicht zu spät, konnten die Ärzte Jacoby mit ihren Familien aus Deutschland fliehen. Ein Runderlass des Reichsinnenministeriums bestimmte noch im selben Jahr, dass „geisteskranke Juden künftig nur noch in die (inzwischen) von der Reichsvereinigung der Juden unterhaltene Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn“ aufgenommen werden. Der letzte Arzt der Anstalt in Bendorf-Sayn war dann Dr. Wilhelm Rosenau, der Vater der Referentin Renate Rosenau.
Fotos vom Vortrag Renate Rosenau und Dietrich Schabow
Anfang der 1940er Jahre wurden die Patienten nicht in die NS-„Euthanasie“ – weder in die T4-Aktion noch in die weitere dezentrale Aktion – einbezogen. Sie teilten vielmehr das Schicksal der in Koblenz und Umgebung wohnenden Juden und wurden – wie auch diese – ab Frühjahr 1942 „nach dem Osten“ deportiert.
Das begann mit der 2. Deportation von Juden aus Koblenz und Umgebung am 30. April 1942 in das „Durchgangsghetto Krasniczyn bei Lublin im Generalgouvernement.
Das setzte sich dann fort mit der 3. Deportation von Koblenz aus am 15. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor.
Ältere Patienten wurden dann mit der 4. Deportation von Koblenz aus am 27. Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt.
Schließlich referierte der Verfasser dieser Zeilen und stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins Mahnmal Koblenz Joachim Hennig über die einzige „Zwischenanstalt in evangelischer Trägerschaft“, die Heil- und Pflegeanstalt Scheuern bei Nassau/Lahn (heute ein Stadtteil von Nassau).
Fotos vom Vortrag Joachim Hennig
Lesen Sie dazu nachfolgend den Text des Vortrages, den Joachim Hennig auf der Tagung gehalten hat.
Anstalt Scheuern – die einzige evangelische „Zwischenanstalt“ der NS-„Euthanasie“
Vortrag von Joachim Hennig
gehalten auf der Tagung des Landtages am 1. Februar 2018 im Bundesarchiv Koblenz
I. Die Vorgeschichte der Anstalt Scheuern bei Nassau/ Lahn
Die Anstalt Scheuern, heute Stiftung Scheuern und ein Teil von Nassau an der Lahn, geht zurück auf das Engagement eines evangelischen Kaplans und eines Lehrers, die Mitte des 19. Jahrhunderts ein sog. Rettungshaus für „verwahrloste Knaben“ planten, um sie zu „tüchtigen Bürgern heranzubilden“. Für dieses Projekt stellte der Lehrer sein Schulhaus zur Verfügung. Er nahm dort am 18. Oktober 1850 den ersten Jungen auf. Förderlich für das Vorhaben waren auch zwei Töchter des Reichsfreiherrn vom und zum Stein, dessen Stammburg in Nassau an der Lahn lag. 1855 fand das „Knabenrettungshaus“ im Schlösschen, einem ehemaligen adligen Witwensitz, sein Domizil. Das war der Kern einer bis heute stetig wachsenden Einrichtung.
Für Scheuern war Vorbild das von Johann Hinrich Wichern in Hamburg gegründete „Rauhe Haus“, ein „Rettungshaus“ zur Aufnahme verwahrloster Jungen evangelischer Konfession. Dieses Konzept übertrug man an die Lahn und damit in das damalige Herzogtum Nassau. Nach dem Deutschen Krieg (1866) wurde das Herzogtum von Preußen annektiert und im Jahr 1868 ging es u.a. mit Teilen Hessens in der (preußischen) Provinz Hessen-Nassau auf. 1870 wurde Scheuern zu einer „Anstalt für Blödsinnige“, später „Idioten-Anstalt“. Sie war eine Einrichtung der Inneren Mission (heute: Diakonie Hessen). Nach der Satzung der Stiftung mussten ihre Mitarbeiter evangelisch sein, die Patienten wurden aber ohne Unterscheid der Konfession aufgenommen.
Seit 1920 war der Lehrer Karl Todt Direktor der Anstalt Scheuern, Anstaltsarzt war Dr. Eugen Anthes. Beide nahmen an der ersten „Fachkonferenz für Eugenik“ des Centralausschusses der Inneren Mission im Mai 1931 in Treysa teil. Im Bericht 1933 begrüßten sie „freudig“ das von den Nazis zuvor erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, „an dessen Grundlagen“ – wie Direktor Todt schrieb – „wir mit unseren Erfahrungen mitbauen durften. (…) Wenn auch der Erfolg dieser Maßnahmen sich erst in Generationen auswirken wird, so danken wir es dem Führer aus tiefster Erkenntnis, dass er mit seinen Gesetzen Saat auf Hoffnung sät, aus der ein gesundes Deutsches Volk erwachsen möge, Gott wird dieses Wollen segnen, weil es getragen ist von der Liebe zum Nächsten!“
II. Die Zwangssterilisationen
Dementsprechend wurde in den Jahren 1934 bis 1938 – für den späteren Zeitraum liegen keine Zahlen vor – mehr als einhundert Patienten sterilisiert. Aus den Berichten ergibt sich, dass die Verfahren nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ möglichst ohne Zwang durchgeführt werden sollten, um das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Anstalt nicht zu belasten. Hilfreich für eine solche „einvernehmliche“ Regelung war dabei auch, dass die Anstaltsleitung die Sterilisation zur Vorbedingung für die Entlassung machte. Die Sterilisationen führte man in den Krankenhäusern in Nassau und in Bad Ems sowie in der Landesheilanstalt Herborn durch. Allein in Herborn wurden in den Jahren 1935 bis 1937 59 Patienten sterilisiert. Nach dort organisierte man aus Ersparnisgründen wiederholt sogar Sammeltransporte.
III. Weitere Entwicklung in der NS-Zeit
Die Provinz Hessen-Nassau war von Anfang an entsprechend der historischen Entwicklung vor 1866 in die beiden Regierungsbezirke Wiesbaden und Kassel gegliedert. Nassau und damit auch Scheuern gehörte zum Regierungsbezirk Wiesbaden. Diese Verwaltungsgliederung blieb in der NS-Zeit erhalten, jedoch kam es auch hier zur „Gleichschaltung“ und zur Einführung des „Führerprinzips“. Zu letzterem gehörte die Umorganisation des Anstaltswesens im Jahr 1937. Im Regierungsbezirk Wiesbaden gab es damals sechs Anstalten: die (staatlichen) Landesheilanstalten Hadamar, Eichberg, Weilmünster und Herborn sowie die in privater Trägerschaft befindlichen Anstalten in Kalmenhof bei Idstein und eben Scheuern bei Nassau. Diese sechs Anstalten standen unter der Aufsicht eines höheren Kommunalverbandes, des Bezirksverbandes Nassau mit Sitz in Wiesbaden. Vergleichbar war dieser Verband mit dem heutigen Bezirksverband der Pfalz. An seiner Spitze stand ein Landeshaupt-mann. Der Bezirksverband hatte verschiedene Aufgabengebiete, u.a. das Anstaltswesen. Leiter dieser Aufgabengebiete wurden 1937 Dezernenten. Dezernent für das Anstaltswesen wurde Fritz Bernotat. Bernotat war ein langjähriges NSDAP- und SA-Mitglied sowie SS-Hauptsturmführer (zuletzt im Dienstrang eines SS-Standartenführers – vergleichbar dem heutigen Oberst). Noch im selben Jahr 1937 nutzte der Bezirksverband Nassau die ganz erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Anstalt Scheuern aus, um sie zu übernehmen: Nach einer Satzungsänderung der Stiftung wurde Bernotat der Ein-Mann-Vorstand von Scheuern. Der dezidierte Nazi Bernotat war also Anstaltsdezernent des höheren Kommunalverbandes, der die Aufsicht über Scheuern hatte, und zugleich Vorsitzender von Scheuern selbst. Scheuern firmierte zwar weiterhin als eine „Anstalt der Inneren Mission der deutschen Evangelischen Kirche“, doch war sie – in den Worten Ernst Klees – „eine Nazi-Einrichtung mit christlichem Mantel“.
Ab Ende 1937 wurde Scheuern Ziel etlicher Transporte von Patienten aus staatlichen und anderen Einrichtungen. Gleichzeitig verlegte man etwa 200 Patienten aus Scheuern mit sechs Transporten in staatliche Einrichtungen in und außerhalb Hessen-Nassaus. Ein Merkmal dieser Verlegungen war, dass verstärkt katholische Patienten nach Scheuern kamen und damit der Charakter einer evangelischen Einrichtung verwässert wurde. Ziel war es auch, mit einer größeren Zahl von Patienten und den damit verbundenen höheren Einnahmen die wirtschaftliche Lage von Scheuern zu verbessern.
IV. Die Anstalt Scheuern im NS-Euthanasie-Programm „T4“
Die Anstalt Scheuern gehörte zum Einzugsgebiet der Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn. Hadamar war bekanntlich die letzte der Tötungsanstalten. Als „Ersatz“ für Grafeneck begann es mit den Tötungen im Januar 1941. Dementsprechend wurden die Meldebögen nach Scheuern erst relativ spät, nämlich im Juli 1940, verschickt. Zu diesem Zeitpunkt musste den Verantwortlichen klar sein, welchem Zweck sie dienten. Probleme bei der Bearbeitung der Bögen gab es in Scheuern aber keine und dementsprechend wurden sie anstandslos ausgefüllt ins Reichsinnenministerium zurück-geschickt. Bald danach, wohl im Spätherbst 1940, fiel die Entscheidung, im Bezirksverband Nassau „Zwischenanstalten“ einzurichten, um die Transporte nach Hadamar besser organisieren zu können. Es entstand eine ganz ungewöhnliche Dichte dieser „Zwischenanstalten“ im Bezirksverband, weil nämlich die drei übrigen Landesheilanstalten (Weilmünster, Eichberg und Herborn) und die beiden Anstalten in privater Trägerschaft Kalmenhof und Scheuern zu „Zwischenanstalten“ wurden. Damit waren alle sechs Anstalten im Bezirksverband entweder Tötungsanstalt (wie Hadamar) oder „Zwischenanstalt“ (wie die fünf anderen Anstalten).
Am 20. März 1941 fand dann in Berlin eine Besprechung mit den Leitern der (aktuellen und zukünftigen) „Zwischenanstalten“ statt, an der auch der Scheuerner Direktor Karl Todt teilnahm. Kurz darauf informierte Bernotat, der inzwischen auch Sonderbeauftragter für den Bezirksverband Nassau war, die in Scheuern Beschäftigten in einer Betriebsversammlung über die bevorstehende Aktion.
Bereits wenige Tage zuvor, am 18. März 1941 hatte die 1. Verlegung von „Ursprungskranken“, also von Patienten, die schon länger in Scheuern lebten, begonnen. Das war ein bemerkenswerter Sonderfall. 38 Pfleglinge wurden von Scheuern nicht – wie es eigentlich der regionalen Aufteilung entsprach – nach Hadamar transportiert, sondern – und das auch noch mit einem Zug der Deutschen Reichsbahn – nach Sachsen. Erklärter Zweck dieser Verlegung war die Mitwirkung der Menschen an einem Dokumentarfilm über die T4-Aktion. Dazu hatte man vermeintlich besonders erschreckend aussehende Behinderte in Scheuern ausgewählt, auch waren Aufnahmen in der Gaskammer der Anstalt Sonnenstein bei Pirna vorgesehen. Was aus diesem Film wurde, ist nicht bekannt, jedenfalls ist er nicht überliefert. Fest steht, dass die Kranken von Scheuern zunächst in die sächsische „Zwischenanstalt“ Arnsdorf und die Mehrzahl von ihnen einige Wochen später in die Tötungsanstalt Sonnenstein kamen. Dort wurden sie mit Giftgas ermordet – und dies auch gefilmt. Der Film ist wie gesagt verschollen.
In der Zeit vom 19. März bis zum 21. April 1941 folgten dann vier Transporte von insgesamt 246 „Ursprungskranken“ aus Scheuern in die Tötungsanstalt Hadamar.
Die Transporte machten in Scheuern dann Platz für Patienten aus anderen Anstalten, die auf dem Weg in die Tötungsanstalt Hadamar zunächst nach Scheuern kamen. Das waren die „Zwischenpatienten“, für die Scheuern eine „Zwischenanstalt“ war. Beim 1. dieser Transporte am 3. April 1941 brachte man 27 Patienten aus der Landesheilanstalt Heppenheim nach Scheuern. Bis zum 14. August 1941 folgten noch 14 Sammeltransporte in die „Zwischenanstalt“ Scheuern. Das waren insgesamt 638 „Zwischenpatienten“, die zumeist per Bahn nach Scheuern kamen: aus Heppenheim, Goddelau, Marburg, Alzey, Gütersloh, Wunstorf, Herborn und Eickelborn.
Mit dem Transport vom 13. Mai 1941 begannen die „Weiterlegungen“ von „Zwischenpatienten“ und einigen „Ursprungskranken“ aus Scheuern in die Tötungsanstalt Hadamar. Es waren insgesamt 5 Transporte – der letzte ging am 23. Juli 1941 von Scheuern ab. Die Kranken kamen aus den Anstalten von Heppenheim, Goddelau, Marburg, Alzey, Katzenelnbogen, Gütersloh und Scheuern – insgesamt waren es 405 Personen.
Mithin waren im Rahmen der T4-Aktion vom 18. März bis zum 23. Juli 1941 in der Anstalt Scheuern insgesamt 689 „Ursprungskranke“ und „Zwischenpatienten“ betroffen.
Einer dieser Patienten von Scheuern, und zwar ein „Ursprungs-kranker“, war der junge Alois Gass. 1923 in Koblenz geboren und im Elternhaus aufgewachsen, trat bei ihm mit 15, 16 Jahren und nach dem frühen Tod des Vaters eine geistige Erkrankung auf. Am 14. Oktober 1940 kam er nach Scheuern. Im Juni 1941 wurde er mit 17 Jahren für den Reichsarbeitsdienst (RAD) gemustert und eine „mittelgradige geistige Behinderung“ festgestellt. Am 1. Juli 1941 brachte man Alois Gass mit 69 anderen „Ursprungskranken“ aus Scheuern und 41 „Zwischenpatienten“ – insgesamt 111 Personen – in die Tötungsanstalt Hadamar.
V. Die Anstalt Scheuern nach dem offiziellen „Euthanasie-Stopp“
Nach einer Unterbrechung von fast eineinhalb Jahren wurden die Krankenmorde mit der regionalen und dezentralen Phase fortgesetzt. Sie begann in Scheuern am 7. Januar 1943 mit einem Transport nach Hadamar. Betroffen waren 61 Kranke. Das waren vor allem „Zwischenpatienten“, die Mitte 1941 aus anderen Anstalten nach Scheuern verlegt worden waren, um von dort aus in die Tötungs-anstalt Hadamar verlegt zu werden. Zu dieser Tötungsaktion war es dann aber durch den „Euthanasie-Stopp Ende August 1941 nicht mehr gekommen. Jetzt, fast 1 ½ Jahre später, waren diese „Zwischenpatienten“ die ersten, die im Rahmen dieser weiteren Tötungsaktion in Hadamar ermordet wurden. Es folgten dann bis zum 7. September 1944 Sammeltransporte und auch Einzeltransporte mit 897 Patienten.
Von dieser weiteren Phase waren insgesamt 958 Kranke betroffen, die meisten waren „Zwischenpatienten“, aber auch „Ursprungs-kranke“ aus Scheuern selbst. Die Verlegungen erfolgten außer nach Hadamar auch in die Privatanstalt Kalmenhof bei Idstein und in die Landesheilanstalt Eichberg. Das waren alles (wie auch Scheuern) Anstalten des Bezirksverbands Nassau. Die Verlegungen erfolgten also innerhalb des Verbandes. Die nach Hadamar transportierten Patienten wurden praktisch alle mit Überdosen von Medikamenten oder mit verhungern lassen umgebracht. Das gleiche Schicksal widerfuhr höchstwahrscheinlich den nach Eichberg verlegten Kranken, wahrscheinlich auch den nach Kalmenhof verbrachten.
Einer dieser „frühen“ Opfer in der weiteren Phase war der 1896 in Pfaffendorf (heute ein Stadtteil von Koblenz geborene Felix K. Bei ihm bildete sich über Jahre eine Nervenkrankheit heraus, die im Jahr 1931 zu seiner dauerhaften Unterbringung in der Provinzialanstalt Gütersloh führte. Am 17. Juli 1941 – sechs Wochen vor dem „Euthanasie-Stopp“ – wurde er von Gütersloh nach Scheuern verlegt. Mit dem 4. Transport im Januar 1943 verbrachte man Felix K. mit 78 anderen Patienten nach Hadamar. 9 Tage später, am 21. Januar 1943, gab es für ihn den letzten Eintrag in der Krankengeschichte. Er lautete: „Hadamar. Endfall einer Schizophrenie. Fieber und Herzschwäche. Heute Exitus an Grippe.“
Es bleibt festzuhalten: Die Anstalt Scheuern hat sich an den Krankenmorden höchstwahrscheinlich nicht aktiv beteiligt. Die Morde an Patienten aus Scheuern geschahen durch die Verlegungen in andere Anstalten. Im Rahmen der T4-Aktion wurden 689 Personen in Tötungsanstalten verlegt. Sie wurden fast alle ermordet. Im Rahmen der weiteren, dezentralen Aktion wurden 958 Personen verlegt. Die meisten von ihnen wurden umgebracht. Insgesamt wurden 1.647 Kranke von Scheuern verlegt. Es ist davon auszugehen, dass ca. 1.500 Personen in den beiden Aktionen ermordet wurden.
VI. Die Aufarbeitung der Geschichte in der NS-Zeit
Nach der Befreiung wurden der Direktor Karl Todt und der in den 1940er Jahren in Scheuern tätige Arzt Dr. Thiel von der französischen Besatzungsmacht verhaftet. Die Staatsanwaltschaft Koblenz klagte sie vor dem Landgericht Koblenz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord an. Beide wurden sowohl in 1. wie auch in 2. Instanz freigesprochen. Das Oberlandesgericht Koblenz nahm an, dass Direktor Todt die Tötungsaktion abgelehnt und diese – durch das Herausnehmen von Patienten u.a. – nach besten Kräften sabotiert hatte. Er sei auf seinem Posten verblieben, um größeres Unheil zu verhindern. In Wirklichkeit sei er ein stiller Widerständler gewesen. – Das ist eine sicherlich zweifelhafte Sicht der Dinge, die damals in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht bis ins Letzte belegt wurde.
Eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen fand jahrzehntelang nicht statt. Im Gegenteil: In den 1970er Jahren benannte man in Scheuern ein Haus nach dem Direktor Karl Todt.
Die Geschichte Scheuerns als Zwischenanstalt wurde erstmals im Jahr 1990 in der Chronik des damaligen Direktors Hermann Otto Fuchs erwähnt. Die Wende in der Erinnerungsarbeit brachte ein Fund im Jahr 1996, als man in einem Archivraum der Anstalt Dokumente entdeckte, die als Beweismittel für den Nachkriegsprozess beschlagnahmt worden waren. Daraufhin beschloss der Vorstand ein befristetes Archivierungsprojekt und stellte die engagierte Andrea Wery ein. Sie arbeitete die Dokumente auf und archivierte sie, erarbeitete eine Ausstellung. Der Begleitband dazu hatte den Titel: „Die Vorgeschichte von Auschwitz liegt vor unserer eigenen Tür.“
Scheuern nahm sich dann seiner Geschichte in der NS-Zeit an. Im November 2000 wurde das Denkmal „… damit wir nicht vergessen“ für die Opfer der NS-Euthanasie“ auf dem Gelände von Scheuern eingeweiht. Es ist eine Skulpturengruppe mit Textauszügen von Briefen früherer, vom Tode bedrohter Patienten, die geschrieben, aber nie angekommen sind, weil sie von der Anstaltsleitung seinerzeit abgefangen wurden. Im Jahr 2001 fand noch – unter maßgeblicher Beteiligung von Andrea Wery eine Fachtagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation in Nassau-Scheuern statt. Dazu erschien auch ein umfangreicher Begleitband.
Seitdem gibt es keine weitergehende Aufarbeitung, aber doch eine wiederholende Beschäftigung mit der Geschichte in Scheuern: durch Veranstaltungen am Denkmal und in der Stadt Nassau, dem Einlassen einer Stolperschwelle, wie sie der Künstler Gunter Demnig vor Gebäuden mit einer besonderen Geschichte verlegt, durch Aufklärungsgespräche mit Jugendlichen, Fahrten mit Patienten u.a. nach Hadamar, Präsentation der Ausstellung in den Räumen der Stiftung Scheuern und auch als Wanderausstellung. Unser Förderverein Mahnmal Koblenz hat diese Ausstellung zum 27. Januar 2002 und zum 27. Januar 2016 - ergänzt um einen Koblenzer Teil - hier in Koblenz präsentiert. Bei der Umbenennung der Heime Scheuern in Stiftung Scheuern hat sich die Stiftung Leitlinien für die weitere Arbeit gegeben. In Punkt 2 („Geschichte und Tradition“) der Leitlinien heißt es: „Die Schuld aus dieser Zeit (des Nationalsozialismus) ist unvergessen und Verpflichtung, uns für das nicht verhandelbare Lebensrecht eines jeden Menschen einzusetzen.“
Im Jahr 2012 ist auch das nach dem ehemaligen Direktor Karl Todt benannte Haus in Scheuern gegen den nicht unbeträchtlichen Widerstand aus Kreisen der Bevölkerung umbenannt worden. Es heißt jetzt wieder „Haus Lahnberg“.
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In der nächsten Abteilung wurden Opferschicksale dargestellt. Den Anfang machte die Archivarin Michaela Hocke vom Landeshauptarchiv Koblenz.
Sie schilderte dabei Schicksale von Zwangssterilisierten, die sie für die Ausstellung im Landeshauptarchiv recherchiert und dann auch präsentiert hatte. Ihren Vortrag begann Frau Hocke mit dem kurzen Lebensweg eines zwangsweise sterilisierten Mannes aus Bad Ems.
Daran schloss sich die Biografie einer gebildeten jüdischen Bürgersfrau aus Koblenz an, die in die Mühle der Unfruchtbarmachungen geraten war. Ihr Operateur war laut Frau Hocke Dr. Fritz Michel, Arzt am Stift in Koblenz und bis heute Ehrenbürger von Koblenz und von Ober- und Niederlahnstein, Namensgeber einer Straße in Koblenz und mit einem Denkmal vor dem Evangelischen Stift in Koblenz Geehrter. Frau B. war auch eines der Opfer, das wenige Tage nach der Zwangssterilisation verstarb. Schon damals in der NS-Zeit hatte Dr. Michel abgestritten, den Tod dieser und anderer Opfer verschuldet zu haben.
Frau Hocke ließ auch ein Opfer der Zwangssterilisation zu Wort kommen, indem sie aus der eindringlichen Schilderung einer Frau aus Cochem, die ebenfalls im Stift in Koblenz unfruchtbar gemacht wurde, zitierte, die diese – in dem im Übrigen erfolglos gebliebenen - Wiedergutmachungsverfahren nach dem Krieg gegeben hatte.
Ihren Vortrag beendete Frau Hocke mit dem Schicksal eines Mannes aus dem Kreis(?) Cochem, der nach der Zwangssterilisation völlig verändert war und – wie seine Mutter angab – nie mehr die vollwertige Arbeitskraft im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb wurde, die er zuvor war.
Günter Haffke referierte anschließend über das Schicksal einer Andernacher Patientin, das er anhand von Unterlagen der Anstalt und deren Tochter eingehend recherchieren und dokumentieren konnte. Dieses Opfer der Krankenmorde wurde dann höchstwahrscheinlich während der sog. dezentralen Phase durch systematisches verhungern lassen getötet.
Der Beitrag von Hans Berkessel über die sog. Rheinlandbastarde musste entfallen, weil der Referent durch einen Trauerfall verhindert war. Sein Beitrag soll aber in dem aufgrund der Tagung zusammengestellten Sammelband veröffentlicht werden.
Diese Abteilung über Opferschicksale fand ihren Abschluss mit dem Referat von Frau Renate Rosenau über kranke Zwangsarbeiter. Dabei war zu erfahren, dass Frau Rosenau und ihr Team die in die Anstalt Alzey eingewiesenen zahlreichen Zwangsarbeiter sehr gründlich erfasst haben. Diese wurden zunächst in Alzey auch behandelt, schwangere „Ostarbeiterinnen“ (aus der Sowjetunion und der Ukraine) wurden in ihre Heimat zurückgeschickt. Das änderte sich im Laufe des Krieges. Dann wurde bei den schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen die Leibesfrucht abgetrieben und die Mütter wieder sehr schnell dem „Arbeitsprozess zugeführt“. Die lebend geborenen Kinder erfuhren nur eine sehr schlechte Behandlung. Geisteskranke Ostarbeiter oder die, die die staatlichen Stellen dafür hielten, wurden vielfach ebenfalls nicht mehr nach Hause geschickt, sondern in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt und dort nach kurzer Zeit vor allem mit einer Überdosis von Medikamenten ermordet.
Die letzte Abteilung der Tagung beschäftigte sich mit der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945.
Der Privatdozent Dr. Ralf Forsbach referierte über die Beschäftigung mit den NS-Medizinverbrechen nach 1945 und der Situation der Täter nach 1945.
Er sprach über den sog. Ärzteprozess, den ersten von insgesamt zwölf Nachfolgeprozessen zu dem Nürnberger Prozess gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher. Angeklagt waren Ärzte, die von sich aus und/oder im Auftrag von Wehrmacht, Firmen, Organisationen und Institutionen Versuche am lebenden Menschen vorgenommen hatten. Hierüber gab es schon früh eine sehr umfangreiche Dokumentation von Prof. Alexander Mitscherlich und seinem Mitarbeiter Fred Mielke, die unter dem Titel „Medizin ohne Menschlichkeit“ als Taschenbuch erschienen war. Die deutschen Ärzte und ihre Verbände ignorierten – wie der Referent aufzeigte – mit Erfolg über Jahrzehnte hinweg eine Auseinandersetzung mit diesen und anderen Medizinverbrechen und mit den schwer belasteten Medizinern. Selbst die bei den Krankenmorden tätigen Gutachter blieben verschont und waren sogar – obwohl ihre frühere Tätigkeit bekannt war – wiederum als Gutachter für Gerichte und Behörden beschäftigt. Es dauerte dann bis zum Ende der 1950er Jahre bis der ehemalige SS-Psychiater und Mediziner Dr. Werner Heyde, der unter falschem Namen („Fritz Sawade“) und mit Hilfe von Mitwissern ein unbehelligtes Leben und eine Anstellung als medizinischer Sachverständiger erhalten hatte, eines Tages enttarnt und verhaftet und kurz vor Beginn der Gerichtsverhandlung tot in seiner Zelle aufgefunden wurde.
Dr. Forsbach schilderte dann insbesondere die Lebensweg und Berufskarrieren von Bonner Ärzten. Sie alle blieben wegen ihrer Tätigkeit vornehmlich als Gutachter im Rahmen der NS-„Euthanasie“ unbehelligt. Der eine oder andere von ihnen konnte nach dem Krieg seine Karriere sogar noch fortsetzen.
Die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten (AG BEZ) Margret Hamm schilderte dann den langen Weg der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten zu einer Opferentschädigung und einer gesellschaftlichen und politischen Rehabilitation. Nachdrücklich kritisierte sie, dass die Zwangssterilisierten Jahrzehnte lang und auch bis heute generell entschädigungspolitisch nicht als NS-Verfolgte anerkannt und den anderen Verfolgten des Nationalsozialismus gleichgestellt sind. Trotz des rassistischen Charakters des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde ihnen von Anfang an eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) versagt. Diese erhielten sie nur, wenn der Eingriff bei ihnen nicht auf der Grundlage eines Beschlusses eines Erbgesundheitsgerichts erfolgte. Lag hingegen eine solche Gerichtsentscheidung vor, dann war es angeblich kein NS-Unrecht. Eine Möglichkeit zur Entschädigung bestand für sie erst ab 1980 in Form einer Einmalzahlung als Härtefall.
Bis zum Jahr 2007 hatte es dann – so die Referentin – gedauert, bis der Bundestag des „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von Juli 1933 ächtete. Aber auch diese sehr späte Ächtung brachte immer noch keine Gleichstellung mit den anderen NS-Opfern durch das Parlament und die Regierung. Dabei ist die Zahl der noch lebenden Zwangssterilisierten heute nur noch sehr gering. Laut Frau Hamm warten gerade noch 103 Zwangssterilisierte auf ihre Rehabilitation. Abschließend verwies sie auf Ihre neueste, 2017 im Metropol-Verlag, Berlin erschienene Publikation: „Ausgegrenzt! Warum?: Zwangssterilisierte und geschädigte der NS-‚Euthanasie’ in der Bundesrepublik Deutschland“.
Das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ schloss der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz, Dieter Burgard, ab mit einem Überblick über die bürgerschaftliche Erinnerungsarbeit im Land und gerade auch die der LAG. Dabei erwähnte er, dass die LAG seit ihrer Gründung im Jahr 2001 ein stetiges Interesse in der Öffentlichkeit und bei den Initiativen gefunden hat. Seitdem hat sich die Mitgliederzahl der LAG von 19 auf inzwischen 63 erhöht.
Mitglieder sind dabei auch Arbeitsgruppen im Umfeld der heutigen Psychiatrieeinrichtungen im Land, wie die Arbeitsgruppe Psychiatrie im Nationalsozialismus Alzey, wie auch diese Psychiatrieeinrichtungen selbst, so das Landeskrankenhaus Andernach, das Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie, die Stiftung Scheuern in Nassau/Lahn, und auch die Arbeitsgruppe Jüdische Heil- und Pflegeanstalt – Jacobysche Anstalt – Bendorf-Sayn.
Anstelle eines Schlusswortes referierte Prof. Dr. Andreas Roth über das Thema „Sterilisationen nach 1945“. Ihm zufolge gab es in der Nachkriegszeit starke Kontinuitäten zur NS-Zeit. Der rassistische Charakter der damaligen Sterilisationen wurde klein geredet. Das geschah vor allem mit Blick auf die Situation im Ausland, etwa auf Staaten der USA, in denen die Sterilisation zulässig war. Welche Kontinuitäten noch Anfang der 1960er Jahre bestanden, machte der Referent an der Zusammensetzung des Gutachter-Ausschusses deutlich, der 1961 im Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung beratend tätig war. Dem Gremium gehörten sieben Sachverständige an, von denen drei nachgewiesenermaßen an Zwangssterilisierungen in der NS-Zeit beteiligt gewesen waren.
Sodann schilderte Roth die Entwicklung bis zum heute geltenden Betreuungsgesetz. Ausgangspunkt war dabei, dass auch die Sterilisation des Betreffenden durch einen Arzt eine Körperverletzung ist, die nur unter gewissen Voraussetzungen gerechtfertigt ist. Entscheidend war dafür die Einwilligung des Betreffenden und deren Bedeutung. Früher wurde eine solche Einwilligung als unbeachtlich angesehen, weil sie als sittenwidrig galt. Eine andere Beurteilung ergab sich erst durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1965. Seitdem war die Sterilisation auch von geistig Behinderten erlaubt, sofern sie in den Eingriff einwilligten bzw. ihr gesetzlicher Vertreter, ihre Eltern oder Betreuer, die Einwilligung erteilten.
Rechtsklarheit und eine Restriktion auf diesem Gebiet brachte das Betreuungsgesetz von 1990, das seit 1992 in Kraft ist. Es enthielt eine Vielzahl von Regelungen, die Eingang in die unterschiedlichsten Gesetze fanden. Das Kernstück ist das Betreuungsrecht, wie es in den §§ 1896 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) geregelt ist. Der Referent ging dann auf die zentrale Vorschrift des § 1905 BGB ein. Danach setzt die Maßnahme für einen selbst nicht einwilligungsfähigen Betreuten die Einwilligung eines hierfür besonders bestellten Betreuers voraus. Diese Einwilligung ist nur unter sehr engen Voraussetzungen, deren Vorliegen das Betreuungsgericht prüft, zulässig. Das ist – wie Roth abschließend feststellte – eine deutliche Absage an eugenisches Denken und hat zur Folge, dass in den letzten Jahren nur wenige Sterilisationen bei geistig Behinderten vorgenommen wurden. Die Zahl der Anträge lag unter 200, von ihnen wurden dann auch nicht alle genehmigt.
Resümierend stellte die Organisatorin der Tagung, die Leitende Archivdirektorin des Landtages, Frau Dr. Monika Storm fest, dass es eine sehr gute, informative und weiterführende Tagung war. Sie sprach für alle Teilnehmer, als sie der Hoffnung Ausdruck gab, dass die Tagung auch diese Massenverbrechen der Nazis weiter bekannt macht. Dem dient auch die Ausstellung "’Lebensunwert’ - Entwürdigt und vernichtet. Zwangssterilisation und Patientenmorde im Nationalsozialismus im Spiegel der Quellen des Landeshauptarchivs Koblenz“, die im Landeshauptarchiv Koblenz noch bis zum 31. März 2018 zu sehen ist. Dokumentiert wird die Tagung in einem Begleitband, der im Herbst dieses Jahres erscheinen soll.
Abschlussfoto (1)
Bildquellen:
(1) Landtag Rheinland-Pfalz/Fotograf Torsten Silz. - Sonstige Bilder: Förderverein Mahnmal
Über diese zweitägige Tagung des Landtages zu den Medizinverbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Helfer berichtete unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig wieder in seiner „Schängel“-Artikelserie „Erinnerung an NS-Opfer“ unter dem Titel „Ein ganz dunkles Kapitel: Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Krankenmorde“.
Lesen Sie HIER den Artikel im „Schängel“ Nr. 6 vom 7. Februar 2018.
„Pflichtbesuch“ von Schülerinnen und Schülern in KZ-Gedenkstätten?
Die Serie über die „Erinnerung an NS-Opfer“ hatte damit nicht wie vorgesehen ihr Ende gefunden. Vielmehr griff unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig aktuelle Koblenzer und landesweite Themen auf und setzte die Reihe immer wieder fort.
Als nächstes schrieb er über den „Pflichtbesuch“ von Schülerinnen und Schülern in KZ-Gedenkstätten. In den letzten Wochen und Monaten haben zahlreiche Politiker gefordert, dass der Besuch von KZ-Gedenkstätten Schülerinnen und Schülern zur Pflicht gemacht werden sollte. Zuletzt haben sich auch Landtagspräsident Hendrik Hering und Stellvertretender Ministerpräsident Volker Wissing bei Veranstaltungen zum Gedenktag für die NS-Opfer am 27. Januar 2018 in diesem Sinne geäußert. Hintergrund der Forderung ist, dass offensichtlich immer weniger Schülerinnen und Schüler von den Verbrechen der Nazis wissen (wollen) und Rattenfänger - wie die Rechtspopulisten von der AfD - Lügen über dieses dunkelste Kapitel unserer Geschichte verbreiten.
Einladung zum Vortrag mit dem Thema "Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz".
Unser stellvertretender Vorsitzender Joachim Hennig hält am Dienstag, dem 27. Februar 2018, um 19.00 Uhr in Mainz einen Vortrag mit dem Thema "Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz". Er ist Teil einer Veranstaltung zum Thema "Justiz und NS-Prozesse in den 60er Jahren". Hierzu lädt die Landeszentrale für politische Bildung mit dem nachfolgenden Schreiben ein:
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Landeszentrale für politische Bildung lädt Sie am Dienstag, dem 27. Februar 2018, um 19.00 Uhr zu einer Veranstaltung zum Thema "Justiz und NS-Prozesse in den 60er Jahren" herzlich ein.
Über "Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess" wird Prof. Dr. Sybille Steinbacher referieren. Prof. Dr. Steinbacher ist Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Inhaberin des Lehrstuhls zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Joachim Hennig wird ergänzend über die Thematik "Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz" informieren. Er ist Stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Koblenz e.V. und war von 1977 bis 2013 Richter im Dienst des Landes Rheinland-Pfalz.
Die Veranstaltung bildet den Auftakt zum Schwerpunkt "1968" der Landeszentrale für politische Bildung. 50 Jahre 1968 sind für die Landeszentrale für politische Bildung Anlass, mit einem Programmschwerpunkt "1968" und einer Vielzahl von Veranstaltungen von Februar bis Mai zu informieren und zu reflektieren. Den Programmflyer zum Schwerpunkt "1968" finden Sie in der Anlage auch als pdf-Datei.
Bei den Protesten von '68 und davor ging es in Deutschland auch um die unzureichende Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. Die Ohrfeige von Beate Klarsfeld an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger im Jahr 1968 war sicherlich ein sichtbares, wenn auch umstrittenes (deutsch-französisches) Symbol der Anklage von Seiten auch der 68er.
Die Auschwitz-Prozesse hatten 1963 bis 1965 mit dem ersten großen Prozess in Frankfurt begonnen. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte zuvor beim Bundesgerichtshof erreichen können, das Landgericht Frankfurt am Main als Ort für den Auschwitz-Prozess zu bestimmen. Bis zum Jahr 1968 wurden anschließend drei Auschwitzprozesse durchgeführt, 1965 bis 1966 sowie 1967/1968. Weitere folgten.
Eine Anmeldung zur Veranstaltung ist per E-Mail unter
Die Veranstaltung findet in der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz in Mainz, Am Kronberger Hof 6 in 55116 Mainz statt.
Über Ihr Interesse und Ihr Kommen freuen wir uns!
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Landeszentrale für politische Bildung
Lesen Sie HIER den Flyer zu dieser Veranstaltung
Vortrag unseres stellvertretenden Vorsitzenden Joachim Hennig.
In seinem Vortrag bei der Veranstaltung beschäftigte sich Hennig mit der strafrechtlichen und personalpolitischen Aufarbeitung der NS-Justiz und deren Juristen nach dem Krieg im neu entstandenen Bundesland Rheinland-Pfalz. Anhand zahlreicher Lebensläufe und Beispiele berichtete er in dieser Form zum ersten Mal vom Scheitern dieser "Vergangenheitsbewältigung" und von Kontinuitäten des Justizpersonals in Rheinland-Pfalz.
Lesen Sie nachfolgend den Vortrag:
Die Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz
Vortrag von Joachim Hennig am 27. Februar 2018 in Mainz
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, wieder mit einem Vortrag in der Landeszentrale für politische Bildung zu sein. Diesmal wurde ich zum Thema „Bestrafung von NS-Juristen“ eingeladen. Der interessierten Öffentlichkeit – also auch Ihnen meine Damen und Herren – ist seit längerem bekannt, dass eine Bestrafung von NS-Juristen in der frühen und auch späteren Bundesrepublik Deutschland nicht stattgefunden hat. Eine Wegmarke zu dieser Erkenntnis war etwa der „Fall Filbinger“. Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hatte den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger 1978 wegen dessen Tätigkeit als NS-Militärrichter als „furchtbaren Juristen“ bezeichnet und dieser hatte sich – uneinsichtig bis zuletzt – dagegen mit dem berühmten Satz gewehrt: „Was damals Recht war, kann nicht heute Unrecht sein.“ Eine der ersten Publikationen war dann die von Walter Seiter und Alphonse Kahn: „Hitlers Blutjustiz – ein noch zu bewältigendes Kapitel deutscher Vergangenheit“. Die 1981 erschienene Schrift ist nicht so bekannt, sie muss aber hier erwähnt werden, Näheres später. Weitere Wegmarken waren 10 Jahre später das Buch von Ingo Müller „Furchtbare Juristen“, die Ausstellung des Bundesministers der Justiz „Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus“ und auch die Dokumentation von Jörg Friedrich „Freispruch für die Nazi-Justiz“.
Angesichts dieser Rezeptionsgeschichte, die erst um 1980 richtig begonnen hatte, dann aber bald Fahrt aufnahm, muss man schon begründen, weshalb man sich jetzt, fast 4 Jahrzehnte später, nochmals dieser Geschichte annimmt – zumal sie zwar auch durch „1968“ angestoßen wurde, aber doch erst später richtig und auch – das werden wir noch hören – schon früher begonnen hatte. Hier soll das, was damals erforscht und beschrieben wurde, nicht erneut in einer dreiviertel Stunde schlaglichtartig herausgestellt werden. Es soll keinen dünnen Aufguss früherer Publikationen geben. Vielmehr werden Sie etwas zur Bestrafung von NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik in Rheinland-Pfalz heute - 73 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus – hören, was Sie bisher so nicht hören oder lesen konnten. Es gibt zwar das eine oder andere, das in dieses Thema hineinspielt, aber das ist nicht so zusammengefasst wie hier - es ist deshalb bislang unbekannt, vergessen und verdrängt.
Versetzen wir uns also in die Zeit vor 73 Jahren, in das Frühjahr 1945. Im März 1945 wurden das Rheinland von den Amerikanern befreit, am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation des Deutschen Reiches zu Ende. Vier Wochen später, Anfang Juni 1945, wurde als eines der ersten Gerichte in Deutschland das Landgericht Koblenz wieder eröffnet.
Das war die sog. Stunde Null. Die Justiz wurde gebraucht. Die Juristen – Richter und Staatsanwälte – waren auf ihrem Posten Manche von ihnen, die in der Zwischenzeit auswärts tätig waren, kamen nach und nach zurück, manche auch viel später.
Und was machten die Juristen? Die machten weiter ihre Arbeit und davon gab es genug. Die Franzosen, inzwischen Besatzungsmacht im heutigen Rheinland-Pfalz, betrieben die politische Säuberung wie die Amerikaner ebenfalls mit Fragebögen, sie waren aber nicht von jedermann, sondern nur von bestimmten Personengruppen, u.a. den Beschäftigten im öffentlichen Dienst, auszufüllen. Auch nicht jedes Mitglied der NSDAP wurde entlassen. Probleme hatten Juristen ggf. wegen ihrer früheren Betätigung, etwa im besetzten Frankreich oder als Richter an Sondergerichten – sofern diese Tätigkeit bekannt wurde. So wurde etwa ein Richter beim Landgericht Koblenz, der zuvor in Frankreich tätig war, aus dem Staatsdienst entlassen. Er konnte sich aber als Rechtsanwalt niederlassen und wurde einer der maßgeblichen Nachkriegs-Rechtsanwälte. Auch gab es für manche Richter und Staatsanwälte wegen ihrer NS-Belastung eine Berufssperre von 2 - 3 Jahren. Danach waren sie aber wieder tätig, vielleicht in einem niederen Amt – aber mit der Möglichkeit der Bewährung und der Fortsetzung der Karriere. Vielen geschah gar nichts. Für aus der Kriegsgefangenschaft Zurückkehrende gab es Sonderregelungen und damit nur in den schwerwiegendsten Fällen überhaupt ein Entnazifizierungsverfahren.
Wie die Aufarbeitung in Theorie und Praxis im Justizministerium Anfang 1948 aussah, möchte ich Ihnen jetzt vorführen. In der Debatte des Landtages zur NS-Justiz hielt der damalige Justizminister Dr. Adolf Süsterhenn die folgende Rede:
Die Justiz ist diejenige Institution, die zwischen 1933 und 1945 nächst der Kirche am meisten vom Nationalsozialismus angegriffen und bekämpft worden ist, jedenfalls unter den Organisationen und Institutionen, die zurzeit des Nationalsozialismus noch real vorhanden waren. Ich bitte das zu bedenken. Ich bitte Sie, mir einen Berufsstand, ich bitte Sie, mir eine Verwaltung zu nennen, die derart den nationalsozialistischen Angriffen ausgesetzt war wie gerade die Justiz, und ich bitte Sie, mir erst recht einen anderen Teil der Staatsverwaltung zu nennen, der die Ehre gehabt hat, durch Herrn Hitler persönlich im Reichstag derart gebrandmarkt zu werden, wie es mit der Justiz geschehen ist. Diese dauernden Angriffe gegen die Justiz wären niemals erfolgt, wenn die Justiz nicht in ihrer Art genügend Widerstand geleistet und dem Nationalsozialismus mehr Sand in die Maschine gestreut hätte, als ihm lieb gewesen ist.
Zur selben Zeit, Januar/Anfang Februar 1948, schlug der Justizminister den Landgerichtsrat Dr. Gerhard Meyer-Hentschel zum Beförderung zum Oberregierungsrat vor. Vor dem Krieg war Meyer-Hentschel Landgerichtsrat in Koblenz dann zum Militärdienst eingezogen worden. Bald wurde er Kriegsgerichtsrat in der nordfranzösischen Hafenstadt St. Nazaire. St. Nazaire war eine Stadt des sog. Atlantikwalls und nach der Landung der Alliierten in der Normandie von Hitler zur Festung erklärt worden. 35.000 deutsche Soldaten waren von den alliierten Truppen eingeschlossen und belagert. Zu einer Erstürmung kam es aber nicht. Die Stadt wurde vom Atlantik versorgt und hielt sich bis Anfang Mai 1945. Dann gingen die deutschen Soldaten, unter ihnen auch Militärrichter Meyer-Hentschel, in französische Gefangenschaft.
Schon im Frühjahr 1946 bemühte sich die Justiz im Land um seine Entlassung. Im Juni 1947 kam er aus der Gefangenschaft frei und wurde ohne Prüfung zwei Wochen später Referent im Justizministerium. Nach einem halben Jahr, im Januar/Anfang Februar 1948 zurzeit der Etatdebatte, schlug ihn Süsterhenn zur Beförderung zum Oberregierungsrat vor. Zur gleichen Zeit, am 4. Februar 1948, wurde Meyer-Hentschel von der französischen Sureté verhaftet und in das Militärgefängnis von Paris gebracht. Dessen ungeachtet bat Ministerpräsident Altmeier Ende Februar 1948 den französischen Gouverneur von Rheinland-Pfalz um die Zustimmung zur Beförderung von Meyer-Hentschel. Der Gouverneur zeigte sich daraufhin sehr verwundert und verwies auf die Verhaftung des zu Befördernden.
Gegen Meyer-Hentschel gab es in Frankreich ein Ermittlungsverfahren wegen eines Urteils, mit dem ein fahnenflüchtiger deutscher Matrose und ein ihm helfender Franzose im August/September 1944 zum Tode und ein helfender französischer Bauer zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Meyer-Hentschel stritt zunächst eine Beteiligung an dem Verfahren ab, tatsächlich war er aber Vertreter der Anklage gewesen. Das Nachkriegsverfahren gegen ihn wurde nach 1 ½ Jahren im September 1948 ohne Begründung eingestellt. Er kehrte aus der Haft nach hier zurück und wurde sofort wieder im Justizministerium weiterbeschäftigt. Eine Prüfung erfolgte nicht, obwohl Anlass bestanden hätte. Denn die Franzosen waren nur an der Tätigkeit der Kriegsgerichte gegen Franzosen interessiert, nicht aber an der gegen deutsche Soldaten. Zudem hatte ein französischer Priester, der Meyer-Hentschel einen „Persilschein“ ausgestellt hatte, ausdrücklich erklärt, dieser sei sehr streng gegen deutsche Soldaten gewesen. Im Übrigen ging es um eine längere Tätigkeit Meyer-Hentschels als Kriegsgerichtsrat, bis die deutsche Besatzung Anfang Mai 1945 in Gefangenschaft kam: Da hätte es einiges zu untersuchen gegeben. Immerhin war man ja schon zufällig auf zwei Todesurteile gestoßen.
Aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr beantragte Justiz-minister Süsterhenn Ende März 1949 erneut Meyer-Hentschels Beförderung zum Oberregierungsrat. Er wurde dann im Juli 1949 Oberregierungsrat und im November desselben Jahres Leiter der Gesetzgebungsabteilung im Innenministerium. Im Jahr 1951 wurden Süsterhenn Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Meyer-Hentschel Vorsitzender des zweiten Senats dieses Gerichts, dort gab es damals insgesamt zwei Senate. Meyer-Hentschel war seitdem auch am Gericht Süsterhenns rechte Hand. 1957 wurde er Vizepräsident des Gerichts und 1961 – nach Süsterhenns Wechsel als Bundestagsabgeordneter in die Bundespolitik – Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs, also höchster Richter im Land.
Nicht so glimpflich kamen andere Juristen wegen ihrer Tätigkeit außerhalb des Deutschen Reichs davon. Ein Beispiel ist der Erste Staatsanwalt Josef Abbott. Abbott war zunächst 1940/41 bei der Staatsanwaltschaft Koblenz und dann in Trier tätig, um im Frühjahr 1941 in das besetzte Polen zu gehen und Staatsanwalt beim Sondergericht Danzig zu werden. Dort war er für Kriegswirtschaftsstraftaten, wie Schwarzhandel, gestohlene Hühner u.ä., zuständig. Ein ehemaliger Justizbeamter beim Sondergericht Danzig berichtete später über Abbott wie folgt:
Der von mir verdächtigte Abbott war, trotzdem er gehbehindert war (durch einen Klumpfuß), schon am Anfang des Krieges bei der Danziger HJ in führender Stellung. Als Staatsanwalt war er der „Danziger Freisler“, der „Danziger Blutanwalt“ usw. genannt. Nach der Einrichtung der Hinrichtungsstätte in Danzig im Jahre 1943 wurde diese besichtigt. Hierzu kamen auch alle Staatsanwälte. Das von der Strafanstalt Berlin-Tegel gelieferte Fallbeil wurde von den besichtigenden Staatsanwälten ausprobiert, indem ein Justizwachtmeister, der für die kommenden Hinrichtungen als „Henkerhelfer“ vorgesehen war, einen sehr starken Vollgummireifen ohne Drahteinlage unter das Fallbeil legte. Das herunterfallende Beil zerschnitt diesen Reifen glatt.
Ein Besichtigender fragte die Anwesenden nun: „Na, wer liefert uns den ersten Delinquenten?“ Wie aus einem Munde riefen alle Staatsanwälte: „Natürlich Abbott!“ Worauf Abbott sagte: „Ja, selbstverständlich, das lasse ich mir nicht nehmen, das Fallbeil wird durch mich stark in Anspruch genommen, dann brauche ich nicht immer die Opfer nach Königsberg zur Hinrichtung schicken.“ Abbott war der gefürchtetste Staatsanwalt beim Sondergericht und man sprach damals in Beamtenkreisen darüber, dass 90% der Opfer, die durch den Antrag Abbotts zum Tode verurteilt und auch hingerichtet wurden, entweder unschuldig waren oder aber nicht die Todesstrafe als Sühne hätten bekommen dürfen.
Nach Kriegsende kehrte Abbott in das Rheinland zurück. Bereits im Februar 1946 bewarb er sich um die Wiederverwendung als Staatsanwalt in Koblenz. Zu diesem Zweck betrieb er seine Entnazifizierung. Ihr Ergebnis war eine Zurückversetzung vom Staatsanwalt zum Hilfsstaatsanwalt und eine 20%ige Gehalts-kürzung auf die Dauer von drei Jahren. Im Juli 1947 war Abbott wieder Hilfsstaatsanwalt. Dann wurde er an Polen ausgeliefert und ein polnisches Gericht verurteilte ihn 1950 zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft. Im Mai 1955 war er wieder hier – als Spätestheimkehrer – und sechs Wochen später wieder in Amt und Würden bei der Staatsanwaltschaft Koblenz.
Juristen waren nicht nur im Osten tätig, sondern auch im Westen. Koblenzer bzw. Trierer Juristen halfen im besetzten Luxemburg mit, dort eine umfangreiche deutsche Strafgerichtsbarkeit aufzu-bauen. Es gab ein „normales“ Landgericht, ein Sondergericht und dieses Sondergericht hatte dann zwei Abteilungen. Eine Abteilung war für die für Sondergerichte üblichen Verfahren zuständig und die zweite Abteilung trat als Volksgerichtshof auf, war also auch zuständig für die Hoch- und Landesverratsverfahren in Luxemburg. Schließlich gab es das berüchtigte polizeiliche Standgericht, das ad hoc für Straftaten im Zusammenhang mit dem sog. Luxemburger Generalstreik Ende August/Anfang September 1942 zusammentrat und innerhalb von 10 Tagen 20 Todesurteile fällte. In wechselnden Funktionen waren an diesen Gerichten mehrere Juristen tätig: u.a. der Erste Staatsanwalt Leonhard Drach, Landgerichtsdirektor Adolf Raderschall, Staatsanwalt Josef Wienecke und Landgerichtsrat Dr. Otto Bauknecht.
Während Raderschall wo auch immer untergetaucht war, waren die drei anderen wieder hier im Land tätig und wurden Ende der 1940er Jahre an Luxemburg ausgeliefert. Raderschall wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt, Drach erhielt 35 Jahre und Bauknecht vier Jahre Freiheitsstrafe. Wienecke war sehr clever. Er hatte um Weihnachtsurlaub gebeten, hatte den auf Ehrenwort auch bekommen und war dann in Koblenz geblieben. Das Urteil gegen ihn über 10 Jahre Freiheitsstrafe erging in Abwesenheit.
Während Bauknecht und Drach im Gefängnis in Luxemburg einsaßen, hatten sich die Zeiten geändert. Nicht nur der Kalte Krieg und der Koreakrieg hatten begonnen, es gab auch Anstrengungen, Westeuropa wirtschaftlich und politisch ein Stück weit zu einen. Dazu passte es nicht, die NS-Verbrecher in Luxemburg weiter ihre Strafe verbüßen zu lassen – zumal die Hauptkriegsverbrecher von Nürnberg – soweit sie nicht hingerichtet worden waren – nach und nach entlassen wurden. Zu Weihnachten 1954 ließen die Luxemburger Drach frei. Ihr Justizminister kommentierte das mit den Worten: „Wir haben den Dreck über die Mosel abgeschoben.“
Bei uns angekommen, bemühten sich diese Juristen um eine Wiedereinstellung in die rheinland-pfälzische Justiz. Der Ehrenwort brüchige Wienecke war ja schon längst wieder in Amt und Würden bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz und auch die drei anderen schafften es. Das Justizministerium war nicht begeistert, meinte aber keinen Grund zu haben, die Wiedereinstellung zu versagen. Gewisse Hemmungen hatte man allerdings, Drach gerade in Koblenz tätig werden zu lassen – zu bekannt war dort sein Wirken in der NS-Zeit insonderheit in Luxemburg. Da verfiel man auf die Idee eines Tauschhandels. Die Justiz in Nordrhein-Westfalen hatte ebenfalls einen stark belasteten Juristen, den man nicht so gern im Land wieder anstellen wollte. Da bot es sich an, den Rheinland-Pfälzer Drach in NRW und umgekehrt den nordrhein-westfälischen Juristen in Rheinland-Pfalz anzustellen. So gut die Idee auch erschien, so ließ sie sich nicht verwirklichen, weil NRW letztlich nicht mitspielte. Danach blieb nur eine Anstellung in Rheinland-Pfalz übrig. Um wenigstens etwas Distanz zur NS-Geschichte zu schaffen, wurde Drach Staatsanwalt nicht in Koblenz, sondern in Frankenthal. Auch der wieder aufgetauchte Raderschall kam in der Pfalz als Amtsrichter in Kaiserslautern unter. Bauknecht wurde 1956 Präsident des Landgerichts Bad Kreuznach und alsbald Präsident des Landesprüfungsamtes für Juristen.
Drach wurde ein Leistungsträger der Frankenthaler Staatsanwaltschaft. In seiner dienstlichen Beurteilung von 1957 hieß es:
Er ist ein besonders befähigter, recht beweglicher, klardenkender Staatsanwalt alter Schule. (…) Sein hohes Verantwortungsbewusstsein führt ihn von morgens bis in die späten Abendstunden an seinen Schreibtisch. (…) In der Ausbildung der Referendare gibt Drach sein Bestes. (…) Drach ist ein aufgeschlossener, bescheidener, stets gleichbleibend freundlicher Mensch, von offenem, durchaus anständigem Charakter und sehr gediegener Lebensauffassung. (…) Nach seinen Fähigkeiten, Kenntnissen und Leistungen halte ich Drach, der viel Bitteres durchgemacht hat und als Spätheimkehrer gilt, für die baldige Einweisung in die Stelle eines Ersten Staatsanwalts ganz besonders geeignet.
Drach wurde 1957 dann auch Erster Staatsanwalt und drei Jahre später noch Oberstaatsanwalt.
Ende der 1950er Jahre begann die DDR ihre „Braunbuch- bzw. Blutrichterkampagne“. Dazu hatte man sämtliche auf DDR-Boden verfügbaren Justizakten auf Personenidentität mit westdeutschen Juristen durchforstet. Anschließend veröffentlichte die DDR mehrere Broschüren, in denen das aufgefundene Material medienwirksam aufgearbeitet wurde. Die Dokumentationen umfassten Listen mit über 1.000 Richtern und Staatsanwälten, die in der NS-Zeit in politischen Strafsachen tätig gewesen waren. Aufgeführt waren ihre Namen und ihre damaligen Tätigkeiten bei den ordentlichen Gerichten, Sondergerichten, Kriegsgerichten oder am Volksgerichtshof, erwähnt war auch ihre derzeitige Tätigkeit im Justizwesen der Bundesrepublik Deutschland.
Dort wurden auch zahlreiche rheinland-pfälzische Richter und Staatsanwälte als „furchtbare“ Juristen genannt. Das gab eine „Schockstarre“, natürlich bei den Genannten, aber auch bei den Justizverwaltungen, die diese ja eingestellt hatten. Schnell war man bemüht, dies als kommunistische Hetze abzutun und das mit dem Hinweis auf Namensverwechslungen und falschen Schreibweisen zu beweisen. Natürlich kamen diese vor, aber zum ganz überwiegenden Teil waren die Angaben in den sog. Braunbüchern zutreffend bzw. ließen sich als Tippfehler u.ä. erklären. Es half also nichts, man musste sich mit den Vorwürfen der Braunbücher auseinandersetzen.
Das war auch deshalb nötig, weil die Braunbuchkampagne hier im Westen Unterstützung fand. Das geschah vor allem durch die von einem Berliner Studenten namens Reinhard Strecker initiierte und mit Unterstützung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) erarbeitete Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz – Dokumente zur NS-Justiz“. Sie wurde stark angefeindet und konnte nur mit ganz einfachen Mitteln realisiert werden. Der Ausstellungskatalog „Ungesühnte Nazijustiz. Hundert Urteile klagen ihre Richter an“ eines weiteren Studenten namens Wolfgang Koppel erschien 1960 nur in hektographierter Form. Aber es gab diese Ausstellung und sie machte eine gewisse Furore.
Unter diesen Umständen kam das rheinland-pfälzische Justizministerium nicht umhin, sich wegen der Kampagne wenigstens um fünf „furchtbare“ Juristen zu kümmern. Eine Notiz des Justizministeriums hielt folgendes fest:
In Rheinland-Pfalz liefen bis Anfang Februar 1960 nur gegen zwei Richter Ermittlungen (gegen den Oberlandesgerichtsrat Dr. Gerd Lenhardt, Neustadt und den Amtsgerichtsrat Gustav Kohlstadt, Koblenz). Nach Angaben des Justizministers waren es im März 1960 fünf. Bis Mai 1960 erhöhte sich die Zahl der Ermittlungsverfahren durch neue von den Ostblockländern erhobene Anschuldigungen auf acht; die Justizbehörden forderten bei der Generalstaatsanwaltschaft in Ostberlin die notwendigen Urteilskopien an und erhielten sie auch übersandt.
Der erwähnte Dr. Gert Lenhardt hatte seine Karriere beim Landgericht Koblenz begonnen, war dort in der Großen Strafkammer stellvertretender Vorsitzender und bei allen wichtigen Prozessen dabei. Vor Kriegsbeginn wurde er Vorsitzender Richter in Trier und übernahm die dortige Große Strafkammer. 1942 wechselte er an den Volksgerichtshof nach Berlin und war zunächst Hilfsrichter. Bei einer stichprobenartigen Recherche im Bundesarchiv habe ich festgestellt, dass er an mindestens 13 Todesurteilen beteiligt war. Später war Lenhardt Hilfsarbeiter beim Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. In dieser Funktion hatte er Anklagen vorzubereiten und sie in der Hauptverhandlung zu vertreten. Nach meinen Recherchen hat er wiederholt auf Todesstrafe plädiert, die auch vom Volksgerichtshof verhängt wurde. Als Hilfsarbeiter beim Oberreichsanwalt nahm Lenhardt an Hinrichtungen teil. Seinerzeit soll er Kollegen in Trier kaltblütig erzählt haben, als Vertreter des Oberreichsanwalts habe er in einer Nacht 186 Personen, je 8 auf einmal, hängen lassen.
Nach dem Krieg war Lenhardt zunächst interniert und hatte mit seiner Wiedereinstellung Probleme. 1952 wurde er aber Hilfsstaatsanwalt in der Pfalz und 1956 Oberlandesgerichtsrat. Lenhardt war von Beginn der Braunbuchkampagne im Visier der DDR-Rechercheure. Als die beiden Macher der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ Strecker und Koppel den Fall Lenhardt aufgriffen und gegen ihn u.a. bei der Staatsanwaltschaft Frankenthal Strafanzeige wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag erstatteten, zog es Lenhardt vor, in den Ruhestand zu gehen und sich als Rechtsanwalt in Neuwied niederzulassen.
Der andere vom Justizministerium erwähnte Fall war der des Amtsgerichtsrats Gustav Kohlstadt. Er war ein mittelmäßig qualifizierter Jurist und versuchte, Karriere in der vom Hitler-Deutschland zerschlagenen und besetzten Tschechoslowakei zu machen. Er ließ sich nach dem böhmischen Budweis abordnen und war dort in allerlei Funktionen für die NSDAP und auch für die Gestapo tätig. Zu einer Beförderung reichte es nicht, aber Kohlstadt wurde immerhin Beisitzer am Sondergericht Prag.
Nach dem Krieg kehrte er in den Westen zurück, ließ sich aus familiären Gründen in Koblenz nieder und wurde Amtsrichter. Im Rahmen der Braunbuchkampagne kam nach und nach heraus, dass er mindestens an 10 Todesurteilen des Sondergerichts Prag mitgewirkt hatte. Der Staatsanwaltschaft Koblenz blieb nichts anderes übrig, als ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einzuleiten. Andererseits drängte man Kohlstadt in den Ruhestand. Im Herbst 1962 ließ er sich in den Ruhestand versetzen; er erhielt schon im Ruhestand die Verfügung über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn.
Genau in dieser Zeit – Anfang der 1960er Jahre – kam noch eine andere Personalie ans Licht, allerdings nicht durch die Braunbuchkampagne. Durch irgendeinen Umstand wurde man auf den Oberverwaltungsgerichtsrat Walter Grabendorff und seine Vita aufmerksam. Grabendorff war der ausgewiesene Beamtenrechtler des Gerichts. Anfang der 1960er Jahre kam nun heraus, dass Grabendorff eigentlich Grabinski hieß, aus Radom im deutsch-tschechischen Grenzgebiet stammte und ein SS-Obersturmführer gewesen war. Das gab allerhand Aufregung beim Oberverwaltungsgericht, gerade auch bei dem inzwischen zum Präsidenten ernannten Dr. Meyer-Hentschel. Da starb „plötzlich und unerwartet“ Grabendorff/Grabinski und Meyer-Hentschel konnte mit einer Traueranzeige und einer Grabrede den gerade entstehenden Fall dieses SS-Obersturmführers erledigen.
Überhaupt hatte das Oberverwaltungsgericht allerhand Glück. Bis 1956 war bei ihm der Mainzer Universitätsprofessor Friedrich August Freiherr von der Heydte Richter im Nebenamt. Vor 1945 war der Freiherr Stabsoffizier in der Fallschirmjägertruppe und Ritterkreuzträger gewesen und nach 1945 außerdem erster Brigadegeneral der Reserve der neu aufgestellten Bundeswehr.
Um ihn gab es Anfang der 1960er Jahre wegen einer Berufung an die Universität Wien und um 1968 wegen seiner Tätigkeit an der Universität Würzburg sehr heftigen politischen Streit. Zu der Zeit hatte er aber schon Mainz und auch das Oberverwaltungsgericht in Koblenz verlassen. Bei Gericht erinnerte man sich an ihn noch mit folgender Anekdote: In einem Prozess eines Soldaten zog sich die mündliche Verhandlung vor dem Senat in die Länge, von der Heydte stand kurz vor dem Einnicken. Da kam der Kläger auf Kampfhandlungen auf Kreta zu sprechen. Ein Ruck ging durch den Freiherrn. Der sprang auf und rief: „Jawoll, Kamerad, Du warst auf Kreta!“ Von der Heydte war nämlich Bataillonskommandeur in der Luftlandeschlacht um Kreta und hatte wegen der Einnahme des Hafens von Chania das Ritterkreuz erhalten. Seine Autobiografie hat den bezeichnenden Titel: „Muss ich sterben, will ich fallen.“
1964 kam noch einmal der Fall Drach hoch und schaffte es bis in den „Spiegel“ hinein. Der war auch zu kurios. Auslöser war der frühere rheinland-pfälzische Finanzminister Nowack. Er war vor einigen Jahren bei Aktiengeschäften aufgefallen und vom Landgericht Frankenthal wegen Untreue zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Ankläger war Leo Drach. Nowack kannte Drach von früher nicht, wohl aber kannte ihn Nowacks Verteidiger, der Koblenzer Rechtsanwalt Dr. Edmund Dondelinger. Beide, Dondelinger und Drach, waren Zellennachbarn im Gefängnis in Luxemburg. Nowack hielt sich zunächst zurück und wartete ab. Als der Bundesgerichtshof aber das Frankenthaler Urteil gegen ihn bestätigte, er sich mit seinem Rechtsanwalt überwarf und dann Drach gegen ihn auch mit einer neuen Anklage wegen Verleitung zum Meineid überzog, machte Nowack den Fall Drach öffentlich. Er klagte die "Justiz von Rheinland -Pfalz" in einem "Offenen Brief" an, sie habe "wissend um die Verbrechen des Drach ... eine bestürzende Kameraderie betrieben, die diese Verbrechen zum mindesten verschleiert, sie entschuldigt oder gar als solche leugnet". Sie habe "diesen Leon Drach ... wieder in den Kreis ihrer Richter und Staatsanwälte eingereiht, so als ob nichts oder schlimmstenfalls ein pensionsfähiges 'Kavaliervergehen' vorläge". Nowack: "Ich lehne es ab, mich von einem Kriegsverbrecher anklagen zu lassen."
Da wurde es wieder hektisch. Es ging aber nur noch um Drach und Wienecke – das war der mit dem Ehrenwort. Raderschall war inzwischen mit Dank und Anerkennung für die in langjähriger treuer Pflichterfüllung geleisteten Dienste in den Ruhestand getreten und an Bauknecht, den Präsidenten des Landesprüfungsamtes, dachte man nicht. Staatsanwalt Wienecke wurde wegen der Luxemburger Geschichte entlassen. Seine Klage dagegen hatte Erfolg. Das Verwaltungsgericht Koblenz hob die Verfügung mit dem Argument auf, dem Land seien bei Wieneckes Einstellung in den Justizdienst die gesamten Umständen bekannt gewesen. Es könne daher im Nachhinein diese nicht für seine Entlassung aus dem Dienst heranziehen.
So blieb nur Drach. Justizminister Schneider stellte sich vor ihn mit dem Argument, Drach habe nur die geltenden Gesetze vollzogen, aber keine Exzesshandlungen begangen. Diese Begründung nimmt die spätere Argumentation Filbingers vorweg: „Was damals Recht war…“ Der Druck wurde aber stärker, und den gab das Ministerium an Drach weiter. Schließlich einigte man sich darauf, dass Drach mit 63 Jahren in den Ruhestand ging – und mit Dank für die geleisteten Dienste für das Land Rheinland-Pfalz. Die NS-Zeit konnte man beim Dank wenigstens ausklammern. Es gab dann noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der brachte aber nichts Neues.
Damit erreichen wir so die Zeit, in der der Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main und die 1968er Jahre stattfanden. Auswirkungen hatten diese Ereignisse auf unser Thema „Bestrafung der NS-Juristen einschließlich der Personalpolitik“ so gut wie gar nicht. Meine eigene Studentenzeit in Mainz, die ein Dreivierteljahr währte bis ich dann genug hatte von den vielen Burschenschaftlern dort, war 1968/69 sehr ruhig. Ich erinnere mich gerade noch an den Fall Bartholomeyczik. Unter den Studenten munkelte man, dass er eine „braune Vergangenheit“ habe. Das war es dann auch. Im „Braunbuch“ der DDR war Horst Bartholomeyczik für die Zeit vor 1945 als Richter am Sondergericht in Breslau und SS-Obersturmbannführer genannt und für die Zeit nach 1945 als Oberlandesgerichtsrat in Koblenz und Professor für Wirtschafts- und Zivilprozessrecht an der Universität Mainz.
Heute wissen wir, dass Bartholomeyczik seit 1939 SS-Obersturmbannführer und Mitarbeiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (RuSHA) war. Er arbeitete mit an Teilprojekten des Generalplans Ost und schrieb die Arbeit: „Erforschung der rechtlichen Voraussetzungen und der Rechtsform der Ostsiedlung“. Das klingt harmlos und juristisch, letzteres stimmt. Dabei muss man sehen, dass der „Generalplan Ost“ die entscheidende Grundlage für die Neuordnung Osteuropas (und darüber hinaus) nach der NS-Rassendoktrin war. Nach dem Sieg über die Sowjetunion im „Vernichtungskrieg“ und der Durchführung des „Hungerplans“, nach dem bis zu 30 Millionen Sowjetbürger verhungern sollten, sollte der „Lebensraum im Osten“ kolonisiert und „germanisiert“ werden. Für die Besiedlung durch „Volksdeutsche“ und Nordeuropäer war geplant, nach und nach die einheimischen slawischen Völker, die ja nur zu einem kleinen Teil „germanisiert“ werden konnten, zu vertreiben oder zu töten. – Die Informationen aus dem „Braunbuch“ hatten offenbar keine Folgen für Prof. Bartholomeyczik. Er wurde 1971 unbehelligt emeritiert. Auf der Internet-Seite von „Gutenberg Biographics“ findet sich Akademisches und Biografisches zu Prof. Bartholomeyczik, u.a. die weitere Information: „Aufgrund seiner Rolle im Nationalsozialismus wurde Bartholomeyczik nicht direkt nach dem Krieg wieder an eine deutsche Hochschule berufen.“
Zu dieser Zeit gingen die letzten „furchtbaren Juristen“ in den Ruhestand. Aktiv war etwa noch Erster Staatsanwalt Josef Abbott – der kleine Freisler von Danzig, Sie erinnern sich. Eine ältere Kollegin vom Oberlandesgericht Koblenz erzählte mir später, in der Kantine des Landgerichts im 8. Stock habe immer eine Gruppe von Juristen, auch Rechtsanwälten, gesessen, Abbott habe vielfach da herumschwadroniert und seine Kommentare mit der Bemerkung abgeschlossen: „Bei Adolf wäre das nicht passiert!“ Abbott wurde dann noch zum Oberstaatsanwalt befördert.
Ein anderer war ein gewisser Wolfgang Reinholz. In der NS-Zeit war Reinholz beim Reichssicherheitshauptamt beschäftigt, später als SS-Sturmbannführer und als stellvertretender Leiter eines Einsatzkommandos für Massenmorde verantwortlich. Nach dem Krieg trat er 1956 in den Justizdienst ein, war Richter an der Trierer Kammer des Verwaltungsgerichts Koblenz und wurde noch zum Vorsitzenden Richter befördert. Reinholz verabschiedete sich 1976 sang- und klanglos in den Ruhestand, ohne dass er als „furchtbarer Jurist“ aufgefallen war.
Im selben Jahr, 1976, ging auch der Präsident des Oberverwaltungsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, Prof. Dr. Gerhard Meyer-Hentschel, in den Ruhestand, nachdem er 25 Jahre lang die Geschicke dieser beiden Gerichte und deren Personenpolitik entscheidend gesteuert hatte. Seine Personalpolitik wird deutlich an einer kleinen Geschichte, die sich abspielte, als sich ein junger Assessor bei ihm zur „Durchleuchtung“ vorstellte. Meyer-Hentschel zeigte er sich erfreut über dessen parteipolitisches Engagement und meinte dazu: „Das ist ja schön, dass Sie sich parteipolitisch betätigen. Aber muss es denn unbedingt die SPD sein?!“
Mitte bis Ende der 1970er waren dann diese und andere NS-Juristen in Rheinland-Pfalz in den Ruhestand getreten. Soweit sie Personalpolitik hatten betreiben können, bestimmte diese noch viele Jahre die Justiz. Aber mit ihnen ging in Person eine Ära zu Ende. Es ist kein Zufall, dass erst dann die systematische und von einer aufmerksamen Öffentlichkeit getragene Aufarbeitung der NS-Justiz und ihres Personals begann. Erinnert sei an Rolf Hochhuth und den „Fall Kiesinger“ im Jahr 1978. Aber auch an das eingangs erwähnte, 1981 erschienene Bändchen: „Hitlers Blutjustiz – ein noch zu bewältigendes Kapitel deutscher Vergangenheit“.
Einer der beiden Autoren war Alphonse Kahn. Mit ihm möchte ich diesen Vortrag schließen. Alfons Kahn, später nannte er sich Alphonse, war Jude, Kommunist und Jurist – eine ungewöhnliche Konstellation – vergleichbar mit Fritz Bauer. 1933 musste Kahn aus Deutschland fliehen. Er ging nach Frankreich, arbeitete illegal für die Résistance und unter falschem Namen gegen die deutschen Besatzer. Als ihm die Enttarnung drohte, floh er nach Deutschland und war weiter illegal aktiv. Nach der Befreiung wurde er Leiter des Landesamtes für Wiedergutmachung - und blieb Kommunist. So geriet er Anfang der 1950er Jahre in die ersten westdeutschen Berufsverbote für Kommunisten im öffentlichen Dienst. Diese wurden zunächst von Ministerpräsident Peter Altmeier für Rheinland-Pfalz und dann als sog. Adenauer-Erlass für die ganze Bundesrepublik verfügt. Daraufhin wurde u.a. Alphose Kahn als Oberregierungsrat des Landes entlassen. Seine Klage dagegen wies das Oberverwaltungsgericht Koblenz ab.
Vorsitzender des Senats war der Ihnen bekannte Dr. Gerhard Meyer-Hentschel, Kriegsgerichtsrat Hitlers in der zur Festung erklärten Stadt St. Nazaire. Er hatte Glück gehabt, Alphonse Kahn nicht. Nach seiner Entlassung verdiente Kahn seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie als Rechtsvertreter mehrerer Firmen, war Präsidiumsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und der Vereinigung demokratischer Juristen. Er erfuhr mehrere Ehrungen, u.a. auch aus Frankreich. Alphonse Kahn starb 1985.
Das, meine Damen und Herren, waren einige Schlaglichter aus der rheinland-pfälzischen Nachkriegsjustiz. Ich bin der Landeszentrale für politische Bildung dankbar, dass ich hier einmal diese Geschichte ansprechen konnte. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Geduld mit mir und dem Thema, auch wenn Sie von Anfang an wussten, dass die Aufarbeitung der NS-Justiz ein Misserfolg und mehr oder minder ein Freispruch für die Nazi-Justiz war. Ich hoffe aber, dass ich Ihnen ein differenziertes Bild vermitteln konnte. Wenn ich an diese Geschichte denke, staune ich immer, dass aus diesen Anfängen heute eine Justiz geworden ist, mit der man im Großen und Ganzen sehr zufrieden sein kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit